Bayern 2 - radioThema


1

Jürgen Habermas Einmischung als Lebenselixier

Er ist der international wirkungsmächtigste unter den deutschen Denkern mit einem Zug zum Universalgelehrten: Wenn der Soziologe Habermas spricht, geht es auch um Moral, Philosophie, Sprache, Recht. Nun feiert er seinen 85. Geburtstag.

Von: Michael Kubitza

Stand: 13.06.2014 | Archiv

Jürgen Habermas | Bild: picture-alliance/dpa

Begriffe, Definitionen, haarfeine Unterscheidungen: Man könnte endlos zitieren aus Jürgen Habermas' vieltausendseitigem Werk. Oder man nähert sich dem großen Denker und Einmischer über die "philosophische Hintertreppe" - etwa über diese merkwürdige Begebenheit, die 2006 für Rauschen im Blätterwald sorgte. Der Publizist Joachim Fest hatte in seiner posthum erschienenen Autobiographie "Ich nicht" einen den Nazis "in allen Fasern seiner Existenz verbundenen HJ-Führer" beschrieben, der, ohne namentlich genannt zu sein, deutlich die Züge des jungen Habermas trug. Jahrzehnte später habe dieser jemand vor Zeugen ein belastendes Schriftstück erhalten, es zerknüllt, in den Mund gestopft und verschluckt.

"Du kennst ja Jürgen"

"Man mag darin eine Art Schadensabwicklung sehen", resümierte Fest. Kurz darauf meldete sich einer der angeführten Zeugen mit einer weit prosaischeren Version zu Wort: Er, so der Historiker Hans-Ulrich Wehler, habe als zwölfjähriger Hitlerjunge mitten im Krieg von dem zwei Jahre älteren Erste-Hilfe-Kursleiter Jürgen Habermas einen Standard-Vordruck erhalten, in dem dieser ihn zur Kursteilnahme aufforderte.

Habermas 1981 in seinem Starnberger Arbeitszimmer

Zwanzig Jahre später habe er seinem Freund Habermas das pikante Schriftstück zurückgesandt, um wenig später bei dessen Frau anzufragen, wie er es aufgenommen habe. Ihre Antwort: "Du kennst ja Jürgen. Er hat es verschluckt." So muss es wohl gewesen sein: Ein Gerichtsurteil bannte die Passagen aus Fests Buch. Kleiner Schlucker also statt großer Führer? Viel Lärm um nichts? Auf der Kehrseite der Anekdote bündeln sich Motive, die Habermas' Leben und Werk charakterisieren: Der immer noch Schluckauf verursachende Langschatten der Nazizeit, die Tücken der Kommunikation, die Bedeutung des öffentlichen Diskurses.

Eine Schlacht um die Geschichte

Das posthume Nachtreten Fests hat seine Vorgeschichte in den Grabenkämpfen der alten Bundesrepublik. Habermas und Fest gehören zu den Hauptkombattanten des großen Historikerstreits von 1986. Ausgelöst hatten ihn Überlegungen des am 11. Januar 2013 90 Jahre gewordenen Historikers Ernst Nolte, der die NS-Verbrechen in den behaupteten Kausal-Zusammenhang eines "europäischen Bürgerkriegs" einordnete. "War nicht der 'Archipel' Gulag ursprünglicher als 'Auschwitz'?" spitzte Nolte seine These in der FAZ von Herausgeber Joachim Fest zu. Und brachte Habermas gehörig in Rage.

Der Soziologe sah in den Thesen Noltes und anderer FAZ-Autoren eine Tendenz zur Relativierung, in der "geistig-moralischen Wende" der Kohl-Ära "eine Art Schadensabwicklung" - so der Titel seines Einwurfs. Was folgte, war eine Generaldebatte, wie sie die Meinungs- und Leserbriefseiten des Landes so vehement, so prominent und andauernd selten erlebt haben.

Die Geschichte der Bundesrepublik in Konflikten

Das redliche, auch heftige Ringen um Positionen ist es, was Habermas' Rang über sein wissenschaftliches Werk hinaus ausmacht. 1954 promoviert der gebürtige Düsseldorfer, noch im Denkgebäude des deutschen Idealismus, über Schelling, forscht danach zu Heidegger.

Die Gründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung: Max Horkheimer, Theodor Adorno

Es ist der Nürnberger Prozess, der ihn "erregt hat und nach links geschoben ins Frankfurter Institut, weil hier die Aufarbeitung am intensivsten gewesen ist" - so sein Kollege Oskar Negt. Die Radikalität der Studenten treibt den entschiedenen Gegner des Radikalenerlasses zurück in die Mitte: Auch "linker Faschismus", den er Rudi Dutschke vorwirft, ist ihm zuwider.

In den nächsten Jahren begleitet und befeuert Habermas die Kontroversen seiner Zeit: Debatten um deutsche Schuld, Verfassungspatriotismus und die Zukunft Europas, um Systemtheorie, die Postmoderne und das "Ende der Geschichte", um Biotechnologie, das Völkerrecht im Irak-Krieg.

Habermas 2007 bei einer Konferenz in Rom

2004 diskutiert er mit Joseph Ratzinger über das Verhältnis von Rationalität und Religion und verblüfft Freund und Feind durch Konzilianz: Beide umkreisen sich wie zwei Wale, die drohen, den anderen zu verschlucken, es dann aber in gegenseitigem Einvernehmen doch lieber lassen. Die öffentliche Debatte ist Habermas schließlich nicht Mittel zum Zweck: "Herrschaftsfreie Kommunikation" mit dem Ziel, in begrenzter Zeit Konsens zu erzielen, ist sein Lebensthema. Die Zustimmung, die er heute in linksdemokratischen Kreisen von den USA bis in die arabische Welt erntet, ist beachtlich.

Bleibt schwierig: Sprechen über Sprache

Dabei war es selten leicht, diesem so konkret engagierten Sprachdenker in seiner abstrakte Argumentation zu folgen. "Das normative Fundament sprachlicher Verständigung ist mithin beides: antizipiert, aber als antizipierte Grundlage auch wirksam" schreibt Habermas und macht seinen Gegnern an der "semantischen Bürgerkriegsfront" (Habermas) die ironische Replik leicht: "Das hörte sich ein bisschen so an, als sollte man sich beim Sprechen selber über die Schulter sehen", schrieb Peter Körte zum 80. Geburtstag des Philosophen 2009 in der FAZ. Wenn sich bloß keiner verschluckt.

Wirken und Werk in Auswahl::


1949-1954 Studium der Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutschen Literatur, Ökonomie in Göttingen, Zürich, Bonn.
1954 Dissertation: Das Absolute in der Geschichte. Eine Untersuchung zu Schellings Weltalterphilosophie.
1955-59 Forschungsassistent am Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main.
1961 Habilitation: Strukturwandel der Öffentlichkeit.
1961-64 außerordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg.
1964-71 ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt am Main.
1968 Erkenntnis und Interesse
1971-82 Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Starnberg.
1973 Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
1981 Theorie des kommunikativen Handelns
1983 Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt am Main.
1985 Der philosophische Diskurs der Moderne /
Die neue Unübersichtlichkeit
1988 Nachmetaphysisches Denken
1990 Die Moderne - unvollendetes Projekt
1992 Faktizität und Geltung
1994 Emeritierung
1996 Die Einbeziehung des Anderen
2005 Zwischen Naturalismus und Religion
2008 Erkenntnis und Interesse
2009 Philosophische Texte (in 5 Bänden)
2011 Zur Verfassung Europas. Ein Essay
2012 Nachmetaphysisches Denken II
2013 Im Sog der Technokratie. Kleine Politischge Schriften XII


1