Bayern 2 - Hörspiel


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Hörspiel des Monats Juli 2020 "Güldens Schwester" von Björn Bicker

Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste benennt zum Hörspiel des Monats August: "Güldens Schwester" von Björn Bicker

Stand: 13.08.2020 12:01 Uhr | Archiv

Frau sitzt im Gang mit gesenktem Kopf, abstrakte, gelbe Montage | Bild: colourbox.com

Begründung der Jury:

„Güldens Schwester“, das ist Fatma Inan. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin des gleichnamigen Hörspiels von Björn Bicker ist Lehrerin. An ihrer Schule wird sie zur Zeugin, wie ein Junge seinen Mitschüler mit einem Messer tötet. Dieses traumatische Erlebnis bildet den Katalysator für Fatmas inneren Monolog, der – herausragend gesprochen von Meriam Abbas – das Zentrum des Hörstücks bildet. Fatmas Nachdenken über das Attentat ihres Schülers wird zur Reflexion über ihr Selbstverständnis als Lehrerin und ihre eigene migrantisch geprägte Biografie. Eine große Rolle nimmt hierbei die Trauer über den viele Jahre zurückliegenden, in der Familie nie wirklich aufgearbeiteten, Unfalltod ihrer Schwester Gülden und die Erinnerung an ihre Mutter ein.

„Diese Frau, die meine Mutter war, die ist 1978, als sie 20 Jahre alt war, vom Schwarzen Meer nach Deutschland gekommen, weil sie hier meinen Vater geheiratet hat. […] Und meine Mutter hat 40 Jahre in Dortmund gelebt und konnte bis zu ihrem Tod im letzten Jahr so gut wie kein Deutsch.“  

Als Lehrerin arbeitet Fatma in einem im Kontext von Migrationsdebatten besonders umkämpften Feld – dem Bildungssystem. Dennoch beruht die Integrität des Stücks gerade darauf, dass sich die Lehrerin nicht auf ihren Beruf und ihre Herkunft reduzieren lässt. Stattdessen entsteht vor den Ohren der Hörer*innen die facettenreich gezeichnete Figur einer Frau mit klaren Überzeugungen, die insbesondere durch ihre Verletzungen und inneren Brüche glaubwürdig ist. Besonders beeindruckt hat die Jury hierbei die im Hörspiel thematisierte Rolle der Sprache und Kommunikation, wie sie Fatma formuliert:

„Meine Mutter hatte keine Ahnung von dem ganzen Zeug, das mich interessiert: Bücher, Popmusik, Kickboxen, Spanisch, Foodblogs, Reisen. Keinen Schimmer! Aber sie hat mich gefragt. […] Und sie hat die Augen geschlossen und einfach zugehört. Das hat alles auf Türkisch stattgefunden. Diese wundervolle, warme, lustige, bewegliche, türkische Sprache, die mir meine Eltern zu Hause beigebracht haben.“

Kenntnisreich und mit viel Empathie räumt Björn Bicker mit einigen der hartnäckigen Klischees auf, die die weiße Mehrheitsgesellschaft zur Abwehr der realen Diversität der deutschen Gesellschaft aufgebaut hat. Dass etwa auch der Grund dafür, dass Fatmas Mutter nicht Deutsch sprach, in den „kolonialen Mustern deutscher Arbeitsmigrationspolitik“ (Kien Nghi Ha) zu finden ist, in der die heute viel beschworene „Integration“ der „Gastarbeiter“ lange Zeit überhaupt nicht erwünscht war, zeigt das Stück sehr eindrücklich auf. Positiv hervorzuheben ist dabei, dass die Besetzungsliste der Produktion ein deutlich höheres Maß an Diversität aufweist, als es sonst in der deutschen Hörspiellandschaft zu beobachten ist. Das Stück wirkt damit selbst als „affirmative action“ gegen die Missstände, die es auf inhaltlicher Ebene kritisiert. Sein Plädoyer für das große Potenzial von Mehrsprachigkeit setzt das Hörspiel auf dramaturgischer Ebene auch dadurch um, dass es mit der erzählten Rede auf Arabisch noch einer weiteren in Deutschland gesprochenen Sprache Raum gibt.

Die Familiengeschichte und die Biografie von Fatma Inan verbinden in einer literarisch prägnanten Sprache private Trauerarbeit mit der Trauer über ein ums andere Mal verpasste gesellschaftliche Chancen – aber auch mit der heilsamen Wut, die der Anstoß zu Veränderungen sein kann. Beispielhaft ist dafür Fatmas – nun nicht mehr nur innerer! – Monolog, mit dem sie auf die Behauptung einer Kollegin reagiert, dass schulische Leistung und Integrationsfähigkeit zentral davon abhingen, dass im Elternhaus Deutsch gesprochen werde. Und angesichts von Björn Bickers breitem Erfahrungshintergrund mit interkulturellen (Theater-) Projekten darf man getrost davon ausgehen, dass dahinter nicht nur fromme Wünsche, sondern die Beispiele von realen Menschen stehen:

„Liebe Marlies, bei uns zu Hause wurde kein Wort Deutsch gesprochen. Und jetzt sitz ich hier und bin deine Kollegin, eure Kollegin und unterrichte Englisch und Deutsch und Politik auf Deutsch. Und warum hat das alles so gut geklappt? Weil meine Mutter mit mir geredet hat. Weil sie mich geliebt hat! Die Sprache spielt dabei keine Rolle. Es ist egal, was die Kinder zu Hause für eine Sprache sprechen. Entscheidend ist, welche Sprache sie in der Schule sprechen. Ich habe Deutsch im Kindergarten gelernt, mit meinen Brüdern, in der Grundschule, überall, nur nicht zu Hause. Türkisch ist meine Muttersprache, Deutsch ist meine Geschäftssprache. Vielleicht denkst du darüber mal nach, bevor du das nächste Mal so einen Blödsinn verzapfst!“

JURY

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg


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