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Der Kampf für die Zwerge Dorfschulen im Fränkischen

Zwergschule heißen Schulen, die so klein sind, dass mehrere Jahrgangsstufen in einer Klasse unterrichtet werden - oft die einzige Möglichkeit, solch eine Schule vor der Schließung zu retten. Petra Nacke hat sich Zwergschulen früher und heute angesehen.

Von: Petra Nacke

Stand: 23.11.2018 | Archiv

Die Dorfschule Krausenbach im südlichen Spessart ist keine normale Schule. Das alte Schulhaus steht seit 1989 im Freilichtmuseum Fladungen nahe der Grenze zu Thüringen. In den Sommermonaten findet hier ein Schauunterricht für die großen und kleinen Besucher statt. Die können erleben, wie Schule Mitte des 19. Jahrhudnerts war, als sich die Dorfkinder frühmorgens in die sperrigen Holzbänke zwängen mussten.

Ex-Militärs als Lehrer

Oft saßen bis zu sieben Kinder auf solchen Bänken. Daneben steht ein Holzofen, der mit Scheiten geschürt wird. Kein Thermostat, um das Klassenzimmer aufzuheizen. Der pensionierte Grenzbeamte Gerhard Bach ist im Freilandmuseum in die Rolle des Lehrers geschlüpft. Das sei nah dran an der Realität der früheren Dorfschulen, erzählt er, dann damals sei damals ganz normal gewesen, ehemalige Militärs als Lehrer einzusetzen. Davon versprach man sich Zucht und Ordnung.

Unterricht in den 1960er-Jahren

Genauso wie von der körperlichen Züchtigung, die hier natürlich nur spielerisch demonstriert wird, bei dem einen oder anderen aber doch einen leichten Grusel auslöst. Die eiserne Regel, auch noch zu Bachs eigener Schulzeit in den 1950er-Jahren, hieß: Den Autoritäten war mit Respekt und unbedingtem Gehorsam zu begegnen – das galt für weltliche ebenso wie für geistliche Autorität.

"Jeden Früh war ja Kirche. Also wir mussten – auch ich noch – jeden Früh in die Kirche, außer Samstag, glaub ich, und danach ging's in geordnetem Gang zur Schule."

Gerhard Bach

Gebannt lauschen die Museums-Schüler in Fladungen den Ausführungen von Gerhard Bach, der von kalten Wintern erzählt, in denen die Eltern das Brennholz für den Ofen im Klassenzimmer herbeischleppten, von Schulwegen, die ewig weit zu Fuß zurückgelegt werden mussten oder von den Tücken des Rechenschiebers, der damals zur Grundausstattung jedes Klassenzimmers gehörte.

Schule oder Knast

Die alte Dorfschule aus Krausenbach hatte es seinerzeit nicht leicht, zur Schule zu werden. Jahrelang drückte sich die kleine Gemeinde um den Kauf des ehemaligen Forsthauses herum – zu teuer, hieß es. Erst als die Regierung drohte, Dragoner nach Krausenbach zu schicken, um den Ortsvorsteher zu inhaftieren, wurde der Handel 1834 abgeschlossen. 62 Jahre lang diente das Gebäude als Volksschule, dann stiegen die Schülerzahlen rapide und die Gemeinde baute eine neue Schule. Heutzutage leiden die kleinen Schulen auf dem Land eher unter ständig sinkenden Schülerzahlen und müssen um ihr Überleben kämpfen.

Rund zwei Autostunden südwestlich von Fladungen liegt Vestenbergsgreuth im Landkreis Erlangen-Höchstadt. In der Marktgemeinde leben rund 1.500 Einwohner auf 14 Ortschaften verteilt. Hier befindet sich eine der kleinsten Grundschulen Bayerns, die schon kurz vor der Schließung stand.

"Das ganze Gebäude war in einem baulichen Zustand, dass man da schon was dran tun muss. Es war aber von den Voraussetzungen her nicht möglich, Förderzuschüsse zu bekommen. Also standen wir vor der Entscheidung: Schließen oder vernünftig sanieren. Und wir haben uns dann mit dem gesamten Gemeinderat und der Bevölkerung dazu entschlossen, hier zu sanieren."

Helmut Lottes, Bürgermeister von Vestenbergsgreuth

Auslöser war ein Wassereinbruch im Schulgebäude – ein Schaden, wie er täglich überall entstehen kann. Die Schule musste geschlossen und die Kinder im rund zehn Kilometer entfernten Lonnerstadt unterrichtet werden. Das hätte beibehalten werden können, denn ab der dritten Klasse werden sie dort ohnehin unterrichtet, doch die Vestenbergsgreuther entscheiden sich für eine andere, deutlich komplexere Lösung.

Der lange Weg zur Zwergschule

Das für die kleine Gemeinde vollkommen überdimensionierte Schulgebäude wurde in interkommunaler Zusammenarbeit mit Nachbargemeinden aus dem Landkreis Neustadt a.d. Aisch-Bad Windsheim im Rahmen eines so genannten ISEK-Programmes (interkommunales Städte-Entwicklungs-Konzept) umgebaut. Es kann nun zu einem Teil als Zwergschule für Erst- und Zweitklässler genutzt werden und zum anderen als Begegnungsstätte für Senioren aus der ganzen Umgebung.

Die neu errichtete Mehrzweckhalle gleich daneben kann in Zukunft sowohl als Turnhalle wie auch als Veranstaltungsort genutzt werden. Nur Dank dieses Kombikonzeptes war es letztlich möglich, die Schule im Dorf zu belassen. Doch der Weg dorthin war langwierig und hürdenreich.

"Sie müssen da alle mit ins Boot nehmen, damit es klappt. Sie müssen auf der einen Seite als Sachaufwandsträger die Voraussetzungen schaffen, das heißt, alle Dinge hier erstellen, die notwendig sind, aber brauchen auf der anderen Seite dann auch die Lehrerschaft. Und da war es auch so, dass wir dann, natürlich unter Einschaltung der Politik, auch das Schulamt auf diese Linie bekommen haben, dass das Kultusministerium damals einverstanden war. Und alles ging, wie gesagt, nur unter der Voraussetzung: ihr zahlt euch das Schulhaus selbst."

Helmut Lottes, Bürgermeister von Vestenbergsgreuth

Dank eines guten finanziellen Polsters aus Gewerbeeinnahmen kann Vestenbergsgreuth diese Voraussetzung erfüllen, doch das war nur der erste Schritt. Denn nachdem das Konzept 2013 stand, mussten zunächst Fördergelder aufgetrieben werden, erzählt Lotter. Erst im vergangenen Jahr konnte die Umsetzung starten, bis 2020 soll alles fertig sein.

Mehr als geldwerter Vorteil

Insgesamt belaufen sich die Kosten für Schule, Mehrzweckhalle und den Seniorentreff inclusive Außenanlagen auf sechs Millionen Euro. Zieht man die Fördergelder ab, bleiben immer noch rund drei Millionen. Das, sagt Lottes, seien beileibe keine Peanuts sondern sehr große Walnüsse für eine kleine Gemeinde. Aber es gebe eben Werte, die sich nicht mit Geld aufwiegen lassen.

Blick in den Unterrichtsraum einer Zwergschule

Denn die Kinder sind schließlich nur in den Klassen 1 und 2 vor Ort, danach geht die Ausbildung in Lonnerstadt, oder Höchstadt oder in den Realschulen und Gymnasien in der Umgebung weiter. "Die Kinder verschwinden ihnen dann fast komplett von den Dörfern", so Lotter. Deshalb dürfe man solche Investitionen nicht nur aus betriebswirtschaftlicher Sicht sehen.

"Ein gewisses Heimatgefühl"

Gerade kleine ländliche Gemeinden seien gut beraten, sich für die Zukunft richtig aufzustellen, um nicht angehängt zu werden. Man müsse attraktiv bleiben für junge Menschen und für Familien. Dazu gehöre ein vernünftig funktionierendes Internet genauso wie das, was sich nicht in Fakten und Zahlen messen lässt – das Gefühl an einem Ort zuhause zu sein. Für Bürgermeister Lotter ein Hauptgrund für das Engagement der Gemeinde.

"Wir möchten die Kinder doch so lange es geht in der Gemeinde halten und damit ein bisschen Zusammengehörigkeitsgefühl, das nach dem Kindergarten, wo sie ja gemeinsam reingehen, fortgesetzt werden soll. Damit wollen wir auch ein gewisses Heimatgefühl erzeugen, und schauen mal – das kann man natürlich nicht kalkulieren – was da dann vielleicht nach Jahrzehnten herauskommt."

Helmut Lottes, Bürgermeister von Vestenbergsgreuth

Ursula Bechmann arbeitet seit drei Jahren als Lehrerin in der Zwergschule Vestenbergsgreuth. Sie erklärt als erstes, wie der Unterricht mit zwei Jahrgangsstufen funktioniert und warum sich hier alles um große Tiere dreht.

"Unsere Zwerge heißen Tiger und Bären. Also die Tiger sind die großen, die Bären sind die neu dazu gekommenen. Viel von der erzieherischen Arbeit wird durch die großen Kinder abgenommen. Also die sagen zum Beispiel: du musst leise arbeiten, ich brauche jetzt meine Ruhe. Die Großen übernehmen wirklich diese Sozialerziehung. Das ist etwas, das an der Jahrgangsmischung total toll ist, dass wirklich ein Teil des 'Ich sag dir wie es richtig geht' eigentlich von den Kindern übernommen wird."

Ursula Bechmann

Trotz aller Vorteile – die Arbeit in einer zweistufigen Grundschulklasse, wie hier in Vestenbergsgreuth, stellt auch besondere Anforderungen an die Pädagogen. Denn die haben eine andere Rolle, erklärt Bechmann. Sie muss sehr viel Material bereitstellen, weil von den Kindern abverlangt wird, dass jede Jahrgangsstufe eigenständig bestimmte Bereiche abarbeitet. Ein Beispiel: Macht die Lehrerin für die Kleinen Frontalunterricht, müssen die Großen gleichzeitig an ihrem Arbeitsheft arbeiten. Vorbereitet sein muss aber beides.

Der pure Luxus

Doch die Pädagogin hat Unterstützung. Eine von der gemeinde angestellte Erzieherin steht zwei Stunden am Morgen zur Verfügung. In Notfällen ist sie auch gleich vor Ort, freut sich Bechmann, da sie gleichzeitig für den Hort zuständig und deshalb im Haus ist. Das sei aber der pure Luxus, sagt Ursula Bechmann, den sich sicher nicht jede kleine Gemeinde leisten kann.

Trotzdem gibt es auch hier Schwierigkeiten, die in größeren Schulen leichter zu handhaben sind, erklärt Bechmann weiter. Wenn die Lehrerin in Vestenbergsgreuth ausfällt, muss jemand von Lonnerstadt kommen und aushelfen. Für den Fachunterricht wie Religion oder Sport fallen weitere organisatorische Aufgaben an: Gruppen müssen zusammengelegt werden, Busfahrten geplant, der Besuch in der noch fehlenden Sporthalle auswärts durchgeführt werden.

Probleme in der "großen Welt"

Was es bedeuten kann, von der gewohnten Zwergschule in die "große Welt" der weiterführenden Schulen zu wechseln, weiß der Diplompsychologe Manfred Rupp zu erzählen, der Anfang der 1970er-Jahre in Weidenbach im Landkreis Ansbach die ersten Jahre seiner Schulzeit verbracht hat. Damals wurde er dort zunächst in Kombiklassen mit jeweils zwei Jahrgangsstufen unterrichtet.

Das habe den Effekt gehabt, als "Kleiner" immer schon mal vorhören zu können, was die "Großen" so lernen, und, wenn man es dann selbst lernen musste, quasi daran anzudocken. Eine Technik, die in der Lernpsychologie ganz gezielt eingesetzt werde, meint Rupp, aber das habe er damals natürlich noch nicht gewusst. Und auch nicht, dass es ganz andere Schulen gibt, als die in Weidenbach.

"Es war so, dass ich in der Fünften in dieser ganz kleinen Schule in Großbreitenbronn war, in der Sechsten in der nächsten kleinen Stadt in Ornbau und dann nach Ansbach bin auf die Realschule."

Manfred Rupp

Vor allem an das Schuljahr in der Zwergschule Großbreitenbronn erinnert er sich gerne: "Die Atmosphäre war tatsächlich besonders, weil es da eben nur uns gab." Es habe keine Größeren oder Kleineren gegeben, nur ein Lehrerehepaar, auf die man sich einstellen musste. "Man konnte, wenn man wollte, auch im Lehrersgarten Unkraut jäten oder sich sonst nützlich machen und pro Viertelstunde gab es ein Sternchen und es gab eine Liste von Pflanzen, von der man mit einer Anzahl an solchen Tokens einen Ableger erwerben konnte."

Verloren und fremd

Den Wechsel ins Schulzentrum nach Ansbach hingegen hat Rupp in keiner guten Erinnerung. Zu groß sei der Kontrast, Ansbach eine ganz andere Welt gewesen, als die, die er bisher kannte. Eine Welt, in der er sich verloren und fremd fühlte. "Mir ist bewußt geworden, was ich für ein Landei war." Aber auch faktisch bedeutete der Schulwechsel eine enorme Belastung für den damals gerade einmal 13-Jährigen. Eineinviertel Stunden Busfahren bedeuten eher Aufstehen, Umsteigen, sich in einer großen Menge von Schülern aller Altersstufen behaupten, und das in einem weitläufigen Schulzentrum, das der absolute Gegensatz war zu Idylle in Weidenbach.

"Man sah, oder es wurde einem bewusst, dass man nur einer von vielen ist. Und diese persönliche Beziehung, wie man sie kannte aus der Zwergschulenzeit, war natürlich auch nicht mehr da."

Manfred Rupp

Genau das trifft die Ansicht von Helmut Lottes, dem Bürgermeister von Vestenbergsgreuth, der für seine Zwergschule kämpft. An den großen Schulzentren gebe es viel mehr Anonymität, kleine Einheiten bieten dagegen die Möglichkeit, Probleme auf dem kleinen Dienstweg zu lösen, ohne einen großen Verwaltungsapparat in Bewegung zu setzen, erklärt Lottes. "Also ich denke, nicht alles ist über die großen Zentren zu lösen", ist er sich sicher. "Die haben manchmal bestimmt ihre Berechtigung, aber dort wo es geht, sollte man auch mit kleineren Einheiten arbeiten."

2013 hat der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) in seiner Regierungserklärung sogar eine Grundschulgarantie abgegeben. Laut Kultusministerium gilt diese Zusage auch heute noch. Demnach bleiben rechtlich selbstständige staatliche Grundschulen in Bayern bestehen, wo Eltern und Gemeinden dies wünschen.

Es braucht den Willen aller Beteiligter, um die Zwergschulen auf dem Land zu erhalten. Es braucht aber auch Ideen für neue Konzepte, gute Strukturen und vor allem Geldmittel, um das zu realisieren, was Helmut Lottes eine Investition in die Zukunft nennt. Eine Investition, die das Leben auf dem Land für viele Menschen wieder attraktiv machen könnte.


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