TV & Serie // "Kiss Me First" Außen "Black Mirror", innen hohl

Serien oder Filme über Online-Gaming warnen meistens vor Realitätsflucht und anderen Gefahren. Die neue Netflix-Serie "Kiss Me First" von "Skins"-Macher Bryan Eisley verspricht eine neue Perspektive.

Von: Vanessa Schneider

Stand: 11.07.2018 | Archiv

Titelgrafik der Netflixserie "Kiss Me First", auf der die Figur Leila alias Shadowfax zu sehen ist. | Bild: Netflix

Wenn mich jemand nach Hause verfolgen würde, den ich gerade erst in einem Online-Game kennengelernt habe, dann würde ich sofort das Weite suchen. Leila, die Protagonistin von "Kiss Me First", ist dagegen nur ein bisschen verwundert, als Onlinebekanntschaft "Mania" in Fleisch und Blut vor ihr steht und sie auf eine Party einlädt.

Leila geht mit. Was sollte sie auch sonst tun? Seit ihre Mutter gestorben ist, ist ihr Leben trist und einsam. Ihre Zeit verbringt Leila am liebsten online im Virtual-Reality-Game "Azana" - so wie Millionen andere Spieler weltweit auch. "Mania", die im echten Leben Tess heißt, lotst Leila eines Tages zu einem geheimen Ort, der auf der offiziellen Spielkarte gar nicht eingezeichnet ist und den "Mania" und ihre Freunde "Red Pill" nennen:

"Im Film Matrix von 1999 hat der Charakter Neo die Wahl zwischen einer roten und einer blauen Pille. Die Einnahme der blauen Pille führt zu einem Leben voller Illusionen und sinnloser Ablenkung. Neo nimmt die rote Pille und erkennt die wahre Realität."

(Erklärung aus Kiss Me First)

Das Game "Azana" wirkt wie eine perfekte Mischung aus "World of Warcraft” und dem Film "Avatar": Eine märchenhafte Welt mit mächtigen Wasserfällen, endlosen grünen Berglandschaften und leicht elfenhaften Spielcharakteren. Anders als die meisten Spieler in "Azana" ist die Red-Pill-Gruppe nicht daran interessiert, sich gegenseitig zu bekämpfen und ihre Skills aufzuleveln. Sie sind die Außenseiter, die Einzelgänger und Andersdenkenden und Red Pill ist der Ort, an dem sie sich austauschen und sie selbst sein können. Denn für alle ist die Offline-Welt die Hölle: Drogenprobleme, gewalttätige Eltern und Missbrauch sind für sie Alltag. Als dann auch noch ein Junge aus der Red-Pill-Gruppe auf mysteriöse Weise verschwindet, macht sich Leila auf die Suche nach Antworten. Sie will wissen, wer hinter Red Pill steckt – und was dieser Typ vorhat. Was Leila nicht weiß: "Adrian", wie sich der Gründer und Anführer von Red Pill nennt, spielt ein böses Spiel mit der Gruppe. Aber jede Warnung kommt zu spät.

"Kiss Me First" ist nach den ersten beiden Folgen leider eine echte Enttäuschung. Die Erzählung erinnert an der Oberfläche an "Black Mirror", ist aber voller Löcher und Lücken. Uns werden einfach Fakten präsentiert, die kaum nachvollziehbar sind. Warum zum Beispiel hat "Adrian" ausgerechnet Leila zur Retterin auserkoren? Genauso wenig zeigt uns die Serie, warum sie sich "Mania" so schnell so nahe fühlt und einfach so einer Gruppe fremder Leute vertraut. Dabei ist die nachdenkliche, in sich gekehrte Leila (toll gespielt von Newcomerin Tallulah Hadden) eigentlich sehr interessant, genau wie die anderen hat nämlich auch sie ein düsteres Geheimnis, das sie sehr belastet.

Serienmacher Bryan Eisley ("Skins") verschenkt ein riesiges Potenzial: Das Setting in einer paradiesischen computeranimierten Welt ist ungewohnt und bietet so viele reale Anknüpfungspunkte für die Handlung - die Probleme in der Gamer-Community, aber auch was Freundschaft im Netz ausmacht oder wie Menschen mit psychischen Krankheiten online Hilfe und Unterstützung finden. Auch dass die Bezeichnung "Red Pill" von einer radikalen und gewaltbereiten Onlinebewegung gegen Frauenrechte benutzt wird, wird in der Serie mit keinem Wort erwähnt. Leider bezieht die Serie diese Themen kaum ein und erzählt stattdessen eine hanebüchene Mysterystory über einen Online-Kult und blickt kulturpessimistisch wie ein grimmiger, alter Mensch auf die Realitätsflucht von ein paar sehr verletzlichen Teenagern.

"Kiss Me First" könnt ihr bei Netflix abrufen.

Sendung: Filter, 11.07.2018 - ab 15.00 Uhr