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Blackbox Heim Kinder hinter verschlossenen Türen

Einschlüsse in sogenannte Time-Out-Räume, nachts in ein "Spezialbett" oder auch ins eigene Zimmer: Solche Maßnahmen werden auch heute noch in manchen Einrichtungen für Kinder mit Behinderung angewandt. Das hatten Recherchen des Bayerischen Rundfunks im April dieses Jahres aufgedeckt. Nun haben weitere Recherchen ergeben: Auch in Heimen für "schwer erziehbare" Jugendliche gehören Freiheitsbeschränkungen zum Alltag. Veraltete Pädagogik? Oder notwendige Strenge?

Von: Lisa Wreschniok und Susanne Fiedler

Stand: 09.10.2016

Symbolbild: Hand mit Schlüssel vor Türe | Bild: colourbox.com

Es sei "das letzte Mittel", das nur im "Notfall" angewandt wird – das betonen die Heime für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Bei einer Umfrage des Bayerischen Rundfunks gaben sie an, mit Spezialbetten, Time-Out-Räumen oder in seltenen Fällen sogar mit Fixierungen zu arbeiten. Der BR hatte 30 solcher heilpädagogischen Einrichtungen angefragt, die Mehrheit bestätigte die Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßahmen. Dies geschehe allerdings mit Einwilligung der Eltern. Doch Tatsache ist: Die Väter und Mütter haben oft keine Wahl. Viele Heime lassen die Eltern vorab pauschale Einverständniserklärungen unterschreiben. Da aber Heimplätze gerade für Schwerstbehinderte rar gesät sind, unterschreiben sie diese mehr oder weniger notgedrungen.

"Wie es um die Aufnahme unseres Sohnes ins Heim ging, musste ich unterschreiben, dass man ihn im Notfall ins Zimmer sperren darf. Dass ich das machen musste, dieser Moment, als ich das unterschrieben habe, das gehört sicherlich zu den bittersten Erfahrungen im Zusammenleben mit unserem Sohn, dass ich das gemacht habe, das ist unvorstellbar."

Raphaela Ohlenforst, Mutter von Nik, heute 17 Jahre

Die Argumentation der heilpädagogischen Einrichtungen ist immer ähnlich: Es handele sich um "schwierige" Kinder, die mit solchen Maßnahmen vor sich selbst geschützt werden sollen. Oder andere vor ihnen. Und es handele sich dabei keinesfalls um eine Strafe, sondern um eine therapeutische Maßnahme. Die Kinder bräuchten eine "reizarme Umgebung". Doch die betroffenen Jugendliche nehmen solche Maßnahmen oft ganz anders wahr. Ein autistischer Junge zum Beispiel berichtet dem BR, dass er das Einsperren sehr wohl als Strafe und zudem als ungerecht und willkürlich erlebt habe. Auch die Haltung der Wissenschaft ist zwiespältig:

"Man hat solchen Konzepten eigentlich eher den Rücken gekehrt und geht heute eher davon aus, dass eine moderne, zukunftsfähige Pädagogik andere Lösungen parat haben müsste, um Kinder in ihrer Identität durch solche Aktivitäten nicht zu beschädigen."

Prof. Reinhard  Markowetz, LMU, Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik

Deswegen gibt es Behindertenheime, die inzwischen jede Freiheitsbeschränkung, die an einem Kind angewendet wird, auch einem Familiengericht melden - zusätzlich zur elterlichen Einwilligung. Das diene beiden Seiten zur Absicherung. Auch Juristen fordern den sogenannten richterlichen Vorbehalt. Eine Praxis, wie sie bei Erwachsenen in der Pflege und Psychiatrie gesetzlich vorgeschrieben ist und die für mehr Kontrolle im System sorgt.

... auch bei Einrichtungen der Jugendhilfe

Doch nicht nur Heime für behinderte Kinder wenden Zwangsmaßnahmen an. Die Recherchen des Bayerische Rundfunks ergaben: Auch in Einrichtungen der Jugendhilfe kommen Einschlüsse in Time-Out-Räume oder ins eigene Zimmer bei über der Hälfte der befragten Einrichtungen vor. Aber gerade bei geschlossenen Heimen ist das problematisch. Denn hier fußt das Konzept zusätzlich auf freiheitsentziehenden Maßnahmen.  Was zur Folge hat, dass das, was die Kinder drinnen erleben, nicht so leicht nach draußen dringt.  Die geschlossene Unterbringung äußert sich nämlich nicht nur in der geschlossenen Tür, auch der Telefon- oder Brief-Kontakt der Kinder zu den Eltern und Freunden ist z.B. in der Eingewöhnungsphase oft stark eingeschränkt.

Genehmigung durch den Familienrichter

Der Freiheitsentzug bedarf grundsätzlich einer Genehmigung durch den Familienrichter. Kein Kind darf einfach so geschlossen untergebracht werden, auch wenn die Eltern einwilligen. Immer muss das Gericht diesen Schritt genehmigen. Ganz anders in puncto Freiheitsbeschränkungen. Hier ist die Handhabe wie in Heimen für behinderte Kinder, es gibt bislang keinen richterlichen Vorbehalt.

Persönliche Freiheiten "verdienen"

Darüber hinaus arbeiten viele geschlossene Heime der Jugendhilfe mit einem Stufensystem. Die Kinder werden, je nachdem wie gut sie sich verhalten und die strikten Regeln des Heims respektieren, hoch- oder runtergestuft. Die Kinder „verdienen“ sich quasi persönliche Freiheiten wie Ausgehen oder das Aufrücken in eine offene Gruppe. Und umgekehrt erleben sie Sanktionen, z.B. Ausgangsverbot bei Nichteinhaltung der Regeln.  Die Heime rechtfertigen dieses Stufensystem als transparent und motivierend. Doch innerhalb der Wissenschaft ist dieser Ansatz durchaus umstritten.  Kritiker monieren ihn als zu oberflächlich.

"Das sind Dinge, die in allen Einrichtungen stattfinden […] aber natürlich gibt es qualitative Unterschiede, insbesondere besteht ein Unterschied darin, ob man verhaltensorientiert arbeitet, wie wir sagen konditionierend, oder ob man therapeutisch arbeitet, und versucht, dem Jugendlichen und seinen Problemen auf den Grund zu gehen. Da ist ein großer qualitativer Unterschied [...] aber trotzdem würde ich immer […] kritisieren, dass sie ein Zwangs-, ein Gewaltregime haben, weil sie mit Stufen arbeiten. Das verhindert natürlich den therapeutischen Zugang, weil ein therapeutischer Zugang immer Offenheit und Freiheit voraussetzt."

Michael Lindenberg, Soziologe und Kriminologe, engagiert im Aktionsbündnis gegen geschlossene Heime

Im Film berichten betroffene Jugendliche, dass sie bei aller Zuwendung, die sie in manchen Heimen auch erfahren haben, viele Maßnahmen genau deswegen als demütigend und erniedrigend erlebt haben. Besonders dramatisch in einem brandenburgischen Heim, das inzwischen geschlossen wurde.

"Augenbrauen zupfen, schwarze Klamotten tragen, Jeans tragen, das mussten wir uns genauso verdienen, da hatte jeder seine Verhaltensregeln, das waren vier bis fünf, wenn man sich darangehalten hatte, dann konnte man die Chips für Augenbrauenzupfen einlösen oder 15 Minuten Musik hören oder 15 Minuten fernsehen."

Christina, ehemaliges Heimkind in der Haasenburg - wurde mittlerweile geschlossen

"Das Schlimmste war für mich, es passiert viel, doch keiner bekommt es mit, gerade wenn es so abgelegen ist. Man lernt da drinnen nichts, man wird bestraft bei jeder Kleinigkeit, man erlebt Gewalt und genau deswegen sind die Jugendlichen ja auch da, weil sie zum Teil selbst gewalttätig waren und lernen sollen, keine Gewalt anzuwenden, aber sie lernen das ja auch bei den Betreuern."

Christina, ehemaliges Heimkind in der Haasenburg - wurde mittlerweile geschlossen

 

Zahlen und Fakten

170.000 Kinder und Jugendliche mit Behinderung leben in Deutschland. Heimplätze für sie sind rar.

Bundesweit werden auch immer mehr nichtbehinderte Mädchen und Jungen in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht:  2010 waren es 63 100, 2014 bereits 72 200. 

Überprüfung?

Doch wer schaut hin? Wer prüft die pädagogischen Konzepte der Heime und ihre Umsetzung? In Bayern liegt die Zuständigkeit für Heimkontrollen bei der jeweiligen Bezirks-Regierung. So kontrolliert zum Beispiel die Regierung von Oberbayern die Heime für Kinder mit geistiger Behinderung im Durchschnitt alle ein bis zwei Jahre - je nach Bedarf auch häufiger oder seltener. Dabei wird nach eigener Aussage auch die Einhaltung der bayerischen Heimrichtlinien überprüft – immer unter Berücksichtigung des individuellen Heimkonzeptes. Und trotzdem blieb dem Sozialministerium offenbar einiges verborgen: Erst über die BR-Recherchen erfuhr die bayerische Sozialministerin Emilia Müller von Einschlüssen in verschiedenen Heimen für geistig behinderte Kinder. Sie zeigte sich schockiert und berief daraufhin einen Expertenrat ein.

Mehr betroffene Jugendliche, mehr Wissenschaftler

Doch manche bezweifeln sogar den Expertenrat selbst, z.B. eine Mutter, die dort als eine Vertreterin der Eltern gehört wurde. Sie hätte sich statt der vielen Heimleiter und Behördenvertreter auch betroffene Jugendliche gewünscht. Und mehr renommierte Wissenschaftler, die neue Konzepte in der Behindertenpädagogik verfolgen. Konzepte nämlich, die auf Freiheitsbeschränkungen verzichten.

Ergebnisse des Expertenrates

Vier Monate hat der Expertenrat untersucht, ob behinderte Kinder in Heimen fahrlässig eingeschlossen werden.

Das Ergebnis: Die Hälfte aller Heime für geistig behinderte Kinder setzt freiheitsbeschränkende Maßnahmen ein.

Sieben gravierende Verstöße wurden entdeckt.

Es gibt jetzt einen Maßnahmenkatalog: Freiheitsbeschränkungen sollen der Heimaufsicht künftig regelmäßig gemeldet werden.

Die Heim-Richtlinien sollen geändert werden.

Unangemeldet Kontrollen werden verstärkt stattfinden.

Die Eltern werden stärker miteinbezogen, es soll beispielsweise Elternbeiräte geben

Es wird Beratungsstellen an den Regierungen geben.

Und dennoch: Kinder dürfen im Ausnahmefall auch künftig eingesperrt werden.

Die Ministerin will sich auf Bundesebene für den Richtervorbehalt auch bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen einsetzen

"Mit diesem Expertenrat im Nachhinein zu legitimieren, dass es wohl behinderte Kinder gibt, die wohl doch so herausfordernd sind, dass man  nichts anderes weiß, als das Kind einzusperren, das hat mich traurig, wütend und ohnmächtig gemacht."

Raphaela Ohlenforst, Mutter eines schwerbehinderten Jungen

Dabei zeigen manche Einrichtungen, wie es auch gehen kann. Wie etwa  der "Zirkel e.V." in Gütersloh. Hier werden auch schwerste Fälle geistiger Behinderung aufgenommen. Das Heim ist stolz darauf, Menschen aufgenommen zu haben, die in anderen Heimen bereits aufgegeben wurden. Der Weg, den man hier geht: Geduld und Zuwendung. Den Menschen auch mal etwas zutrauen. Und der Verzicht auf Time-Out-Räume, Zwangsjacken oder Fixierungen. Mehr Personal als anderswo gibt es im Zirkel übrigens nicht.


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