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Die 90er in Deutschland Da war doch was?

Erinnern Sie sich? Die gegenwärtige Flüchtlingswelle ist kein neues Phänomen. Anfang der 1990er Jahre kamen Hunderttausende aus Kriegs- und Krisengebieten zu uns. Die von Rechtsextremisten verübten furchtbaren Brandanschläge tauchten Deutschland in ein düsteres Licht.

Von: Claudia Grimmer

Stand: 11.09.2015 | Archiv

Auf ihre Vertreibung aus dem Asylheim in Hoyerswerda machten am 16.10.1991 in Berlin Ausländer aufmerksam, die Mitte September dem gewaltsamen Vorgehen Rechtsradikaler weichen mußten. Ein Teil von ihnen hat Hilfe und Unterstützung von einer Berliner Kirchengemeinde und autonomen Gruppen bekommen. | Bild: dpa-Bildfunk

Ein Blick in die 90er Jahre: Es herrscht Krieg auf dem Balkan und Glasnost in der Sowjetunion. Zwischen Äthiopien und Eritrea toben Grenzstreitigkeiten, ebenso zwischen Mali und Burkina Faso. In Burundi ist Bürgerkrieg, genauso wie in der Republik Kongo, in Senegal und Simbabwe. Erst kamen 50.000 nach Deutschland, dann, im Jahre 1991, waren es bereits doppelt so viele und 1992 stieg die Zahl auf 440.000 an. Rudolf Seiters, CDU, war der damalige Bundesinnenminister. Mit der Zeit macht in den Medien und der Politik das Wort "Asylmissbrauch" die Runde.

Erinnerungen an die 90er Jahre

25. September 1991: Auch in Berlin demonstrieren Menschen gegen Gewalt auf Ausländerfeindlichkeit

In Hoyerswerda kam es Anfang der 90er Jahre zu mehreren Übergriffen auf Flüchtlings- und Vertragsarbeiterwohnheime. Am 20. September 1991griffen Neonazis und Sympathisanten ein Heim mit 240 Flüchtlingen an. Sie bewarfen es mit Steinen und Molotow-Cocktails. 32 Menschen werden verletzt, 82 Personen vorläufig festgenommen. Am Morgen des 21. September wurden die Flüchtlinge unter SEK-Begleitung mit Bussen auf Unterkünfte im Umland verteilt. Die meisten von ihnen flüchteten in Eigeninitiative nach Berlin und Niedersachsen weiter. Am 27. September 1991 fand in Hoyerswerda eine antifaschistische Demonstration gegen die Ausschreitungen mit 4.000 bis 5.000 Teilnehmern statt. Neonazis bezeichneten Hoyerswerda als "erste ausländerfreie Stadt". Dieser Begriff wurde 1991 das erste Unwort des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache.

Nach Hoyerswerda kam Rostock

In Mannheim-Schönau kam es im Mai/Juni 1992 zu tagelangen Unruhen anlässlich der Unterbringung von Flüchtlingen in der damaligen Gendarmeriekaserne. Dann folgte Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Dort ist die Zentrale Aufnahmestelle für Asylberwerber in einem Plattenbau mitten in einem Wohngebiet untergebracht. Das Haus ist überfüllt. Auch damals stapeln sich die Anträge bei den Behörden. Drei Tage lang kommt es zu rassistischen Ausschreitungen durch Rechtsextreme. Sie greifen Asylbewerber mit Baseballschlägern an, werfen Steine und Brandsätze. Die Polizei ist überfordert, kann erst nach Stunden in einer angemessenen Mannstärke die Krawalle beenden. Sowohl die Asyldebatte als auch die Zahl gewaltsamer Übergriffe auf Asylbewerber und andere Einwanderer erreichten 1991/92 ihren Höhepunkt. In diesen beiden Jahren stellten in Deutschland laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rund 695.000 Menschen einen Antrag auf Asyl.

Es folgte Mölln und Solingen

Gedenken in Mölln

Im Schleswig-Holstein kommt es am 23. November 1992 zu einem Anschlag mit rechtsextremistischem Hintergrund. Ein Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häusern fordert drei Todesopfer und neun zum Teil schwer Verletzte. Bei den Toten handelte es sich um ein zehn- und ein vierzehnjähriges Mädchen sowie deren Großmutter. Der Brandanschlag von Solingen in Nordrhein-Westfalen kostete fünf Menschen das Leben, 17 wurden verletzt. Auch diese Tat hatte einen rechtsextremistischen Hintergrund. Das BKA nahm die Ermittlungen auf.

Auch damals gab es Streit um die Asylpolitik

Zähe Diskussionen, gegenseitige Schuldzuweisungen, ein neues Asylgesetz und ein Anschwellen des Wahlerfolges rechtsradikaler Parteien dominierten die Flüchtlingsdebatte in den 90er Jahren.
Im April 1992 errangen die Republikaner in Baden-Württemberg 10,9 Prozent bei der Landtagswahl. Sie zogen damit erstmals in den Landtag ein. Am selben Tag fanden auch die Wahlen in Schleswig-Holstein statt. Dort erhielt die DVU 6,3 Prozent der Stimmen. Sie bildete damit die drittstärkste Kraft im Landtag.
Heftige Debatten um das Asylrecht entbrannten. Die Parteien waren auch innerhalb der eigenen Reihen zerstritten, denn die Diskussion ging um eine Änderung im Grundgesetz. 1993 wurde das bis dahin schrankenlos gewährte Asylgrundrecht geändert. Der Artikel enthielt nun im Absatz ein den Satz: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Die Anerkennungsquote ging in dieser Zeit entsprechend zurück. Sie lag bis 2002 unter zwei Prozent.

Dann kam der Balkankrieg

Sarajewo stand wochenlang unter Beschuss

Genau 20 Jahre ist es her, da wurde nach dreieinhalb Jahren Krieg in Bosnien-Herzigowina der Dayton-Vertrag geschlossen, ein Friedensvertrag zwischen den bis dahin verfeindeten Staaten Serbien und Bosnien-Herzegowina. Bis zu diesem Friedensschluss flüchteten auch damals viele in den Westen.
Begonnen hatte alles mit dem Tod Titos 1980. Jugoslawien zebrach und Slobodan Milosevic kam 1987 an die Macht. Ab diesem Zeitpunkt wurden Albaner diskriminiert. Sie wurden in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch Serben ersetzt. Kritische Journalisten wurden entlassen, die Medien auf Linientreue gebracht. 1990 gewann auch Franjo Tudman die Wahlen in Kroatien. Seine Regierung trat von Anfang an nationalistisch auf. Der Dinar wurde überall abgewertet, denn es herrschte eine Wirtschafttskrise im Land.

Im Juni 1991 erklärten Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, der Kosovo und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Mitte Juli eskalierte die Situation. Die serbische Armee beschoss den Flughafen von Ljubljana. Es kam zum zum offenen Krieg. Die Belagerung von Sarajevo begann am 5. April 1992 mit der Einnahme des Flughafens durch die Jugoslawische Volksarmee. Nach Anerkennung Bosnien und Herzegowinas durch die Europäische Gemeinschaft brachen am Tag darauf in ganz Bosnien schwere Kämpfe aus. Die Zahl der Opfer dieser Auseinandersetzungen werden auf 200.000 Tote und drei Milliionen Vertiebene geschätzt.

Deutschland hilft

Deutschland nimmt in der Zeit zwischen 1991 und 1995 die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge aus den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens auf. 350.000 Menschen finden einen Zufluchtsort in der Bundesrepublik. Nach einer Berechnung der Uni Bamberg kehrten die meisten wieder in ihr Land zurück. Lediglich 20.000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina wurden als Härtefälle eingestuft und blieben dauerhaft bei uns im Land.

Serbien gegen alle - Serbien will in den Kosovo

1998 brach der Kosovo-Krieg aus. Bis dahin war das Gebiet eine Provinz Serbiens. Erst kämpften UCK, die Befreiungsarmee des Kosovo, und eine albanischenparamilitärischen Organisation, dann versuchte die serbische Armee das Gebiet des Kosovos einzunehmen. Am 24. März 1999 erfolgten in der Operation Allied Force Luftangriffe der NATO gegen Serbien mit dem Einsatz von zeitweise über 1.000 Flugzeugen. Rund 55.000 Kosovaren flüchteten in diesen Zeiten nach Deutschland. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums war der Großteil davon Roma. Bis zum Jahr 2004 kehrten rund 5.000 Kosovaren zurück in ihre Heimat.

"Das Asylrecht ist nicht für Sozialtouristen"

CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer

Die Lage in den Balkanstaaten ist auch heute nicht stabil. Viele Menschen dort sind arbeitslos. Ein Durchschnittsverdienst liegt bei 300 Euro, die medizinische Versorgung ist oft mangelhaft, die Perspektiven hoffnungslos. Fast 9.000 Asylsuchende kamen alleine aus dem Kosovo im vergangenen Jahr nach Deutschland. Und die Zahl stieg weiter an. Im Januar 2015 waren es bereits 3630, die eine dauerhafte Bleibe in Deutschland beantragten.

Rückführungszentrum

Im Februar 2015 wurde für Kosovo-Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, ein Schnellverfahren durchgesestzt. Innerhalb von 14 Tagen sollte so das Verfahren abgeschlossen sein, was jedoch Illusion war. Im September 2015 wurde in Bamberg ein Rückführungszentrum auf dem ehemaligen Militärgelände der US-Armee eingerichtet. Es ist für 1.500 Flüchtlinge mit geringer Bleibeperspektive vorgesehen. Die ersten wurden bereits zurück in ihre Heimat geschickt.

Meldungen über Anschläge gehen unter

Die Meldungen über Anschläge auf Asylbewerberheime in Deutschland gehen oft unter, finden nicht den Wiederhall in den Medien. Trotzallem gab es bundesweit im vergangenen Jahr 170 Attacken auf Unterkünfte. Bis Juni 2015 registrierte das Bundesinnenministerium 150 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Auch in Bayern. In der Nacht zum 12. Dezember 2014 stecken Unbekannte im mittelfränkischen Vorra einen als Flüchtlingsunterkunft umgebauten Gasthof samt Scheune und ein frisch renoviertes Wohnhaus an.

Am 9. Februar 2015 wird in Escheburg bei Hamburg ein Brandanschlag verübt. Das Gebäude ist für die Flüchtlinge nicht mehr bewohnbar. Im Juli dieses Jahres kommt es zu Attacken gegen künftige oder bestehende Asylbewerberheimen im oberbayerischen Reichertshofen, in Böhlen bei Leipzig und im hessischen Mengerskirchen. Im Juni waren es Anschläge in Meißen und Lübeck, im Mai in Limburgerhofen (Rheinland-Pfalz) und Töglitz (Sachsen-Anhalt). Die Liste ist lang.

Angaben der Vereinten Nationen befinden sich derzeit weltweit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Dies ist die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet wurde. Und sie wächst weiter.


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