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Bluttat im Münchner Einkaufszentrum Die Nacht der Gerüchte

Eine Stadt im Ausnahmezustand: Eine Nacht lang wussten die Menschen in München nicht, an welchem Ort sie noch sicher sind. Was passiert, wenn Panik sich ungewollt breit macht - unsere Autorin berichtet von ihren Erfahrungen.

Von: Lisa Altmeier

Stand: 23.07.2016 | Archiv

Polizei sperrt Münchner Straßen ab | Bild: picture-alliance/dpa

Es dauerte nur ein paar Minuten bis sich die Körperhaltung der Menschen auf den Münchner Straßen änderte. Freitagabend, Feierabendzeit, viele waren unterwegs zu ihren Familien oder hatten eine Verabredung mit Freunden. Um 18.31 Uhr landete dann auf etlichen Smartphones eine Push-Nachricht: "EIL – Schüsse in Münchner Einkaufszentrum."

Was folgte war eine Flut von Gerüchten, die per Facebook, aber vor allem Dingen über Twitter, aufs Handy und dann direkt in die Köpfe prasselte: Angeblich habe es 15 Tote gegeben. Angeblich seien die Täter auf der Flucht. Angeblich habe auch jemand am Stachus, also direkt in der Innenstadt, geschossen. Angeblich würde der Angreifer seine Tat in der Ubahn fortsetzen. Alles ungesicherte und - wie wir nun wissen - falsche Informationen, aber mit derart wuchtigem Inhalt, dass auf der Straße kaum noch jemand wusste, wo und was überhaupt noch sicher war. 

Aus entspannten Feierabendnachhause-Gehern wurden so in kurzer Zeit nervöse Ins-Smartphone-Starrer. Jedes Video, jedes Foto, das in so einem Moment auf das Handy gespült wird, sorgt für noch mehr Nervosität. Aber das Handy weglegen geht auch nicht, man könnte ja die eine wichtige Information verpassen.

Wo ist man denn noch sicher?

Dann eine Durchsage der Münchner Verkehrsgesellschaft: "Ab sofort wird wegen eines Polizeieinsatzes der Betrieb von allen Ubahn- Bus und Tramlinien eingestellt." Wieso erfuhr man nicht. Viele Leute, die wie ich zuvor versucht hatten, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln heimzukommen, liefen daraufhin erst in die eine Richtung, dann in die andere – je nachdem aus welcher Ecke der Stadt gerade die böseren Gerüchten auf dem Handy landeten. 

Die Polizei warnte davor, sich an öffentlichen Plätzen aufzuhalten, riet schließlich dazu, daheim zu bleiben und Veranstaltungsorte nicht zu verlassen. Aber was tun, wenn man mitten in der Stadt ist und es keine Möglichkeit gibt, heimzukommen?

Zusammen mit einer Freundin, mit der ich für den Abend verabredet war, lief ich zurück in die PULS-Redaktion, dort hatten sich inzwischen viele Kollegen zusammengefunden, die alle nicht heimgehen wollten.

Ein paar Tage zuvor hatte es eine Axtattacke in Würzburg gegeben, an Silvester ging eine Terrorwarnung am Münchner Hauptbahnhof durch die Medien (die aufgrund der Ereignisse in Köln aber schnell in allgemeine Vergessenheit geriet) und zwei Stunden vor der Schießerei haben wir bei PULS uns noch mit mehreren Kollegen über die Terrorgefahr in München unterhalten. Meine Meinung in dem Gespräch war: Selbst wenn etwas passiert, ist es sehr unwahrscheinlich, dass man selbst davon betroffen ist. Und deshalb fürchte ich mich mehr vor Autos als vor Anschlägen und Amokläufern. Außerdem wollen solche Leute Angst verbreiten, und ich habe keine Lust, ihnen diesen Gefallen zu tun und meine Angst an sie zu verschenken.

Ruhig bleiben - aber wie?

Eigentlich und ganz theoretisch wissen die meisten Leute, was man in einer möglichen Gefahrensituation nicht tun sollte: In Panik geraten und seltsamen Informationen aus dem Internet vertrauen. In der Praxis ist das für Menschen mit Angst schwierig. Und die Angst, sie kam dann doch, bei so ziemlich jedem, dem ich begegnet bin und auch bei mir selbst. Wenn sich im Sekundentakt besorgte Menschen bei einem melden, zwischenzeitlich mehrere Hubschrauber um deinen Kopf kreisen, und überall Polizei ist, ist es schwierig keine Angst zu haben, auch wenn man sich das in der Theorie fest vorgenommen hat und auf keinen Fall Angsteintreibern die Oberhand lassen will.

Heute wissen wir: Es war höchstwahrscheinlich ein Einzeltäter, der erst neun Menschen und dann sich selbst am Tatort getötet hat. Gestern wussten wir: Nichts.

Und wenn du kaum etwas weißt, hältst du vieles für möglich. Im Nachhinein war die Angst in der Innenstadt unbegründet. Denn dort hat sich der Täter nach der Schießerei überhaupt nicht aufgehalten. Die Leute hörten Schüsse, die nie gefallen waren, liefen vor einem Menschen davon, der nicht hinter ihnen her war, und vertrauten Tweets, die erlogen waren. Es handelte sich nur um eine Massenpanik. "Nur eine Massenpanik" klingt zynisch, aber muss man es wohl so sagen.

Wir in der Redaktion mussten aus Sicherheitsgründen das Licht ausmachen, damit von außen niemand sieht, dass wir dort drin waren. Vor der BR-Pforte patroullierte Security, die meisten Leute riefen ihre Eltern an, um sie zu beruhigen. Gemeinsam beäugten wir etwas skeptisch diverse schwarz-rot-gelbe Trauersmileys, die andere Menschen geschickt hatten,  um Solidarität mit München zu bekunden. Und immer wieder neue, nicht verifizierte Videos, sinnlose Fotos von der Polizei bei den Einsätzen und neue Gerüchte.

Wir kannten das natürlich alles schon: Die Mutmaßungen, die Solidaritätsbekundungen, die Ausländerhetze, die gegenseitigen Beschuldigungen und die Leute in den Gefahrenzonen, die einen Sicherheitscheck auf Facebook ausfüllen. Nur: Auf einmal waren wir diese Sicherheitscheckausfüll-Leute: "Neun Leuten gefällt dein Status während Die Schießerei in München."

Offene Türen für alle Herumirrenden

Viele Münchner fanden Unterschlupf bei freundlichen Mitmenschen, die über den Hashtag #offenetür zu sich nach Hause einluden, etliche warben sogar offensiv mit Chips, Pizza oder Bier für ihr Zuhause. Einerseits etwas befremdlich, andererseits verdammt nett. Und wer weiß schon, welcher Ton in so einer Nacht der richtige ist? Auch Moscheen, die Staatskanzlei, viele Restaurants und auch Luxushotels öffneten ihre Türen. Der beruhigendste Mensch in dieser Nacht war auf jeden Fall der Münchner Polizeisprecher mit seiner nüchternen Art, der etliche Gerüchte wieder und wieder dementieren musste und vom Internet zu Recht mit einem großen Candystorm belohnt wurde.

Nach stundenlangem gemeinsamen Nachrichten-Streamen im Dunkeln und diversen Ablenkungsaktionen (wie funktioniert der Erdnussautomat eigentlich genau?) entschlossen wir uns mitten in der Nacht dazu, Fahrgemeinschaften zu bilden und uns gegenseitig heimzufahren. Auf den Straßen waren um diese Zeit sehr viele Menschen unterwegs. Schließlich fuhren die öffentlichen Verkehrsmittel nicht, und nicht alle Leute hatten von den Offenen Türen mitbekommen. Autofahrer sammelten ihnen bekannte und ihnen fremde Menschen ein und brachten sie nach Hause, das Füreinander-Sorgen klappte. Eine Kollegin hatte im Auto noch Platz für eine besorgte Oma, die durch die Straßen irrte.

Um 2 Uhr nachts gab es dann eine Pressekonferenz der Polizei, die vorsichtige Entwarnung verkündete. Als ich heute Vormittag auf dem Rückweg ins Funkhaus durch die Straßen lief, war es echt leer in München, viel leerer als sonst. Nicht, dass diese Stadt ein Ort wäre, an dem am Samstagsmorgen normalerweise laute Feste gefeiert werden. Trotzdem fehlte etwas: Es war nicht gemütlich, es war einfach nur leer. Wird diese Nacht die Stadt verändern? Ich denke, sie hat es bereits getan.


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