Was, wenn Corona auf Lesbos ausbricht? "Wir liefern die Leute komplett dieser Pandemie aus"

Knapp 20.000 Menschen leben im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos auf engstem Raum. In Zeiten von Corona eine mehr als fatale Situation. Journalistin Franziska Grillmeier war bis vor kurzem vor Ort und erzählt von den Zuständen.

Von: Maria Christoph

Stand: 26.03.2020 | Archiv

Bewohner des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos stehen und knien vor einem Zelt, im Hintergrund stehen Olivenbäume  | Bild: privat

Es gibt Orte in Europa, an denen Social Distancing gerade undenkbar ist. Es fehlt schlicht der Platz: "Hier gibt es eine Toilette für 200 Leute. Einen Wasserhahn für 1.300 Menschen. Man kennt diese Zahlen seit Jahren. Doch nichts hat sich daran verändert", sagt die auf der griechischen Insel Lesbos lebende freie Journalistin Franziska Grillmeier. Sie spricht von dem Flüchtlingscamp Moria. Die griechische Insel Lesbos teilen sich aktuell über 80.000 Menschen – mehr als ein Viertel davon sind Schutzsuchende.

Auch in Griechenland herrscht seit Montagmorgen aufgrund des Corona-Virus eine Ausgangssperre. Geflüchtete dürfen das Lager nicht verlassen. Einige humanitäre Helfer*innen, Mitarbeiter*innen von NGOs und Berichterstatter*innen mussten Moria verlassen. So auch die Journalistin Franziska Grillmeier. Wie sie die Lage im Camp in ihren letzten Tagen vor Ort erlebt hat und was passieren könnte, wenn der erste Corona-Fall auftreten sollte, hat sie uns im Interview erzählt.

PULS: Franziska, wie war die Stimmung im Camp Moria bevor du Lesbos vergangene Woche verlassen hast?

Franziska Grillmeier: Es war eine unglaublich aufgeheizte Stimmung. Ich stehe immer noch mit vielen Geflüchteten im Camp in Kontakt. Sie schreiben mir täglich, dass sie Angst haben – vor allem die Frauen. Nachts fällt oft der Strom aus. Es fehlen Ansprechpartner, wenn sie sexualisierte Gewalt erlebt haben. Es herrscht überall viel Unsicherheit. 

In den letzten Wochen seit der Öffnung der Grenze der Türkei richtete sich die Gewalt von einigen Insulanern gegen Geflüchtete, aber auch gegen humanitäre Helfer und Journalisten. Diese Gewalt ist nicht repräsentativ für den Großteil der Bevölkerung, der sich seit Jahren solidarisch zeigt. Die Menschen sind müde. Fühlen sich von der eigenen Regierung und den EU-Staaten seit Jahren im Stich gelassen. 

Es gibt gerade nur wenig medizinisches Personal auf der Insel und Menschen, die einfach mal den tristen Alltag durchbrechen. Wegen eines Krätze-Ausbruchs vor ein paar Wochen startete außerdem ein Ausreisestopp. Jetzt mit der Pandemie-Gefahr dürfen Geflüchtete überhaupt nicht mehr von der Insel und stecken wie in einem Gefängnis fest. Ich bekomme Nachrichten von unbegleiteten Kindern, die fragen: Sterben wir an dem Corona-Virus? Was passiert mit uns? Warum ist hier keiner mehr?

Was glaubst du würde passieren, wenn jetzt ein Corona-Fall im Camp Moria bekannt werden würde?

Die übrigen humanitären Organisationen vor Ort versuchen sich gerade mit allen Kräften darauf vorzubereiten. Sie bauen beispielsweise kleine Zelte auf, in denen man Leute isolieren kann. Aber Social Distancing ist praktisch unmöglich. Allein bei der Essensausgabe stehen Tausende Menschen so nah aneinander, dass es immer wieder Reibereien gibt. Wenn die sich jetzt alle innerhalb kürzester Zeit anstecken würden, wäre das eine absolute Katastrophe. Vor allem für ältere Menschen, und von dieser sogenannten Risikogruppen gibt es hier sehr viele. Das Virus würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten und enorm schnell zur Todesfalle werden.

Wie ist die hygienische und medizinische Situation – kann man sich im Camp überhaupt gegen Infektionen schützen?

Es gibt zum Teil Wasserhähne, die nur für 1.300 Leute bereitstehen – von über 20.000, die hier leben. Dort putzen sie sich morgens die Zähne, füllen tagsüber ihr Wasser auf, waschen ihre Hände und die Windeln der Kids. Oft haben die Leute über Stunden gar kein Wasser. Die Müllabfuhr kommt nicht durch die engen Gassen, um Abfall abzutransportieren. Es gibt eine Toilette für 200 Leute. Man kennt diese Zahlen seit Jahren. Und doch hat sich nichts verändert. 

Ärzte ohne Grenzen sind noch mit drei Ärzten vor Ort, die sich vor allem um Kinder und Jugendliche kümmern. Dann gibt es noch einzelne kleine medizinische Organisationen, die sich versuchen darauf vorzubereiten, wenn etwas passiert. Und es gibt einen Militärarzt. Das lokale Krankenhaus auf Lesbos ist schon seit Jahren komplett überlastet: Wer dorthin geht, wurde auch vor Corona meist direkt an der Tür abgewiesen – keine Kapazität! Es gibt dort zu wenig Beatmungsgeräte und Schutzmasken, im Camp selbst gibt es kein Desinfektionsmittel und zum Teil nicht mal Seife. Das Gesundheitssystem bricht schon jetzt in sich zusammen. Mit einer Pandemie ist das gar nicht mehr zu stemmen. Ärzte und medizinisches Personal müssen weiterhin auf die Insel kommen können. Man muss Leute evakuieren, in Hotelzimmer bringen, Wohnungen mieten, die Risikogruppen von der Insel bringen. Denn sonst betrifft es die ganze Bevölkerung hier, nicht nur die Menschen, die in Moria schutzbedürftig feststecken.

Wie gehen die Geflüchteten selbst mit dieser Situation um?

Ich habe noch miterlebt, dass sich eine Corona-Gruppe zusammengeschlossen hat. Sie malen Zettel mit Hinweisen wie: Ihr müsst Hände waschen! Ihr müsst euch desinfizieren! Natürlich wissen sie, wie lächerlich das wirkt, wenn zum Teil kein Wasser aus der Leitung kommt. Andere nähen Masken und versuchen die auszuteilen. Es ist den Menschen vor Ort bewusst, dass sie einer extremen Lage ausgesetzt sind und dass sie sich eigentlich im Ausbruchsfall nicht davor schützen können. 

In Deutschland dreht sich gerade alles um Ausgangsbeschränkungen, gehortetes Toilettenpapier und leergeräumte Supermarkt-Regale. Auf Lesbos teilen sich 200 Menschen eine Toilette, haben kaum Wasser. Wie fühlt es sich für dich an, diese beiden Extreme zu kennen?

Ich bin hier in Deutschland selbst in einer sehr privilegierten Situation: Ich hab ein Haus mit Garten, einen Hund, mit dem ich spazieren gehen kann. Aber ich weiß: Auch hier gibt es viel Ungleichheit, Leute, die nicht einfach in eine Wohnung oder in ein Haus gehen können, um sich vor dem Virus zu schützen, um andere zu schützen. Ich glaube, jetzt brechen viele gesellschaftliche Versäumnisse einfach an die Oberfläche: Lesbos steht sinnbildlich für eine Vernachlässigung von wahnsinnig vielen marginalisierten Gruppen und Menschen, die seit Jahrzehnten zurückgelassen wurden. Und natürlich zeigt sich jetzt hier auch, wer privilegiert ist und sich schützen kann und wer nicht. Menschen, die schon immer versucht haben, sich in Sicherheit zu bringen, werden gerade wieder zurückgelassen.

Die Bundesregierung hat angekündigt, wegen Corona die humanitäre Aufnahme von Geflüchteten aus dem Ausland "bis auf Weiteres" zu stoppen, das heißt zum Beispiel: Asylbehörden bleiben geschlossen.

Es fühlt sich an wie eine koordinierte Vernachlässigung. Seit Jahren. Dinge, die jetzt in Moria passieren, und die Leute, die dort zurückgelassen werden, die Inselbevölkerung, alle spüren das. Es überrascht mich nicht. Gleichzeitig ist es natürlich unglaublich für mich, sich Europäerin zu nennen, während ich merke: Es gibt einfach keinen solidarischen Zusammenhalt in der EU. Griechenland und auch Italien werden im Stich gelassen. Das ist eine ganz bewusste Entscheidung, die Menschen in den Tod zu führen: Während wir hier Versammlungen von mehr als zwei Leuten auf der Straße verbieten, können dort 20.000 Menschen an einem Ort zusammenleben. Wir liefern sie damit komplett dieser Pandemie aus. Es ist unglaublich beschämend. Ich hoffe einfach, dass humanitäre Korridore offen bleiben. Und dass es zu einem gewissen Erwachen kommt. Denn es trifft uns alle, wenn wir jemanden zurücklassen.

Was kann jeder Einzelne von uns tun, während wir hier im Home Office zuhause sind?

Verfolgen, was die Menschen in Moria tun: Viele dort haben Zugang zu Facebook und Twitter. Obwohl immer wieder das Internet zusammenbricht, wissen die Leute, was um sie herum passiert. Deswegen ist es ganz schön, wenn man einfach mal guckt, was beim Hashtag #Moria #LetsTalk und #LeaveNoOneBehind passiert.

Wir erstellen gerade eine Facebook-Gruppe, in der Menschen, die Zugang zu Handys haben, ihre Erlebnisse mit der Außenwelt teilen können. Sie erzählen, wenn zum Beispiel wieder ein Feuer ausbricht oder es zu wenig Essen gibt. Aber auch, wenn sie sich verliebt haben oder wenn irgendwas Gutes passiert ist.

PULS am Nachmittag vom 25. März 2020 - ab 15 Uhr