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"Blendle"-Start Kostenloses Lesen mit Gewissensbissen

Das iTunes für Journalismus ist da: Das niederländische Startup Blendle ist jetzt auch in Deutschland gestartet. Hier kann der Nutzer einzelne Artikel statt ganzer Zeitungen kaufen. Das ist praktisch. Noch praktischer ist allerdings, dass man sie nach dem Lesen wieder zurückgeben kann. Für unseren Autor ein Dilemma.

Von: Max Muth

Stand: 14.09.2015 | Archiv

Blendle startet in Deutschland | Bild: Screenshot von Blendle

Beim ersten Mal war es noch einfach. Mein erster Blendle-Artikel war ein Stück des Medienjournalisten Stefan Niggemeier in der FAZ über: Blendle. Darin beschreibt er in etwas anderen Worten und etwas szenischer als in seinem vielgeteilten Blog-Post über Blendle, warum das niederländische Start-Up zwar eine Chance für die Verlage darstellt, aber eben eine Chance mit einem Haken.

Das Hauptproblem für Verlage sieht er darin, dass die Verlage mit dem einzelnen Verkauf ihrer Artikel ihr Gesamtprodukt, die eigentliche Zeitung, weniger wert machen. Stimmt. Claus Kleber geht in dem FAZ-Stück noch weiter und findet es bedenklich, dass die Zuschauer dann nicht mehr die redaktionelle Komposition einer Seite oder einer Sendung wahrnehmen. Da fehle dann Ausgewogenheit. Stimmt auch.

Artikel lesen und einfach zurückgeben

Habe ich aber alles schon in Niggemeiers Blogpost gelesen, als ich den FAZ-Artikel auf Blendle lese. In dem Blog-Artikel stand auch, dass man bei Blendle jeden Artikel bei Nicht-Gefallen zurückgeben kann.

Also mache ich das. Ganz einfach. Ein kleines Feld am Ende des Artikels verspricht: "Du hast diesen Artikel für 0,89 Euro auf Blendle gelesen. Hat er nicht deinen Erwartungen entsprochen? Erhalte dein Geld zurück." Und genau so einfach ist es. Wer auf den Link klickt, bekommt ein Eingabefeld angezeigt, bei dem ich einen Grund aussuchen kann, wieso ich den Artikel zurückgeben möchte.
In meinem Fall andere Gründe: Alles schon bei Niggemeier gelesen. Das kann ich da direkt eintippen, bestätigen: "Wir haben gerade 0,89 Euro auf dein Blendle-Konto zurücküberwiesen. Coole Sache!" Coole Sache. In der Tat. Aber nicht unproblematisch. Was passiert, wenn das alle machen? Und halte ich das überhaupt aus? Als Journalist am Niedergang meiner eigenen Branche mitzuwirken?

Das Trittbrettfahrerproblem

Mein zweiter Artikel auf Blendle ist ein Focus-Stück darüber, dass wir alle bald von Maschinen ersetzt werden. Tenor: Die Roboter nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Nichts neues, nicht aufregend, nicht ganz richtig. Auch hier fällt mir die Rückgabe leicht. Ich wähle die "Aus Versehen gekauft"-Option, weil ich mich so fühle und zappe weiter. Vor die ersten moralischen Probleme stellt mich ein guter Text von Simon Hurtz in der Süddeutschen Zeitung über linke Aktivisten, die stramm nationale Hetzer bei ihren Arbeitgebern verpfeifen. Gutes Thema, ordentlich recherchiert, gut eingeordnet, schön geschrieben.

89 Cent ist natürlich ein bisschen kostspielig, wenn man bedenkt, dass es wahrscheinlich ein mittelgroßer Artikel auf der Medienseite der SZ war, den ich da gekauft habe. Zum Vergleich: Der Straßenpreis der Süddeutschen Zeitung beträgt derzeit 2,50 Euro. Ich habe also gerade maximal ein Prozent der Zeitung für ein Drittel des Ausgabenpreises erstanden. Eigentlich müsste meine Begründung beim Zurückgeben also "zu teuer" sein. Aber natürlich habe inzwischen ein schlechtes Gewissen. Ich bin der Grund, warum auch Blendle scheitern wird.

Ein Freerider, ein Schwarzfahrer in der Medien-U-Bahn, ein Zeitungsschmarotzer. Schon beim dritten Artikel gehen mir die Argumente aus - und ich reagiere wie ein Stichling-Männchen, das vor einem Hecht steht - mit einer Übersprungshandlung. Statt wie eigentlich richtig "Zu teuer" zu wählen oder den Blendle-Mitarbeitern meine Gewissensbisse in dem individuellen Eingabefeld zu erklären wähle ich einfach "Zu kurz".

Moralische Leser?

Richtig schlecht fühle ich mich nach der Lektüre von Henning Sussebachs Söder-Porträt im ZEIT-Dossier. Das hatten letzte Woche noch lauter Leute empfohlen und ich konnte es nicht lesen, weil Dossiers nicht online gestellt werden. Mit Blendle ist das möglich, und der Text enttäuscht nicht.

Ein echter Sussebach: Aufwändig recherchiert, gut beobachtet, originell gedacht. Sätze, auf die ich auch gern gekommen wäre. Und das Gefühl, den gesichtslosen Markus Söder ein bisschen besser kennengelernt zu haben. Ein großer Schreiber über einen leider wohl bald großen Politiker.

"Du hast diesen Artikel für 0,89 Euro auf Blendle gelesen. Hat er nicht deinen Erwartungen entsprochen? Erhalte dein Geld zurück." Meine Hand zögert, als ich die Maus über das Eingabefeld mit den Begründungen bewege.

Zu teuer? Nicht wirklich. Nicht gut geschrieben? Hell no! Argumentativ komme ich hier nicht weiter. Dieses Mal muss ich mich zwingen. Ich klicke auf "Zu lang" und hoffe, dass eine Mehrzahl der Blendle-Nutzer bessere Menschen sind als ich.

Edit: Offenbar erreicht man nach etwa zehn "Fehlkäufen" eine Schwelle, nach der die Rückgabe-Option einfach wegfällt. Inzwischen ist es bei mir so weit. Ein Problem weniger. Wirkliche Schmarotzer können das Spiel aber natürlich mit beliebig vielen Wegwerf-Email-Adressen wiederholen.


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Kommentieren

Flo, Mittwoch, 16.September 2015, 12:56 Uhr

4.

Ganz ehrlich: Diesen Artikel hätte ich ohne jegliche Gewissensbisse zurückgegeben...

Tilman, Dienstag, 15.September 2015, 20:40 Uhr

3. Geringe Rückgaberate

Auf dem internationalen Journalism Festival in Perugia im April verwies einer der Gründer von Blendle auf die geringe Rückgabe-Rate von ca 2-4%: https://twitter.com/dw_innovation/status/588972992203456512

Ich hab mich damals schon gefragt, ob das im Geiz ist Geilen Deutschland auch so sein wird.
Neben der automatischen Sperre nach einer bestimmten Anzahl, ist sicher auch die innere moralische Grenze ein hilfreiches Werkzeug (wie auch selbst beschrieben)

Aber wir werden sehen.

huggle, Dienstag, 15.September 2015, 13:23 Uhr

2. zweischneidiges Schwert

In der Tat ein moralisches Dilemma.

Einerseits macht man mit noch einer online Zeitung natürlich noch mehr Arbeitsplätze in der Druckbranche kaputt - Setzer und Drucker sind jetzt schon auf der roten Liste und der edle Brauch des Korrekturlesens ist ohnehin schon lang abgeschafft.

Andererseits hätte man hier als Leser doch endlich mal die Chance, den Verlagen unmißverständlich zu zeigen, was man haben möchte. Problematisch ist dabei allerdings, daß halt nicht alle das selbe haben wollen. Schon der dauerhafte Erfolg der Bildzeitung (*schauder*) beweist, daß Otto Normalverbraucher nicht grade an Pulitzer-verdächtigem soliden Journalismus interessiert ist.

Ich für meinen Teil wünsche mir niveauvolle, gut recherchierte, streng sachliche und inhaltlich richtige Artikel, sprachlich gewandt und frei von Rechtschreib- und Grammatikfehlern (lieber BR, in letzteren beiden Punkten ist auch auf Ihren Seiten in letzter Zeit ein beträchtliches Defizit zu beklagen!).
Für solche journalistischen Werke würde ich dann auch gern sehr tief in die Tasche greifen.

Allerdings gibt es da noch einen volkswirtschaftlichen Haken, den Ulrich Roski schon in den frühen 80ern anläßlich der Einführung des Videotexts besang: "ein leichter Makel haftet freilich dem System bisher noch an: nämlich, daß die Marktfrau darin keinen Fisch einwickeln kann."
Woher sollen die ganzen Standlfrauen künftig das Einwickelpapier für Radieserl, Häupelsalat und Bauernkäs beziehen? Die übermäßig bunten Boulevardzeitungen sind dafür ungeeignet, da die meisten Farbstoffe giftig sind. Hier öffnet sich demnächst womöglich eine vielversprehende Marktnische für aufstrebende Jungunternehmer (die dann gleich die vielen arbeitslosen Lektoren wieder ins Arbeitsleben eingliedern könnten).

  • Antwort von huggle, Dienstag, 15.September, 15:41 Uhr

    ...solidem Journalismus, Dativ, natürlich. Da sieht man mal wieder, wie wichtig Lektoren sind!

Herr Umkommandieren, Montag, 14.September 2015, 21:53 Uhr

1. Keine Sorge

Wenn du alle Artikel zurückgibst, dann sagt Blendle dir irgendwann, dass Schluss ist.

Den Journalismus rettet das natürlich auch nicht. Aber wenigstens müssen die Schmarotzer dann wieder zu den Krautreportern gehen.

  • Antwort von Max, Dienstag, 15.September, 10:45 Uhr

    Hallo Herr Umkommandieren,

    du hast völlig recht. So weit kam ich bis zur Veröffentlichung des Artikels nicht. Inzwischen habe ich die Schwelle erreicht. Schade. Was die normalen Kritikpunkte aber wieder deutlicher macht. 40 bis 90 Cent pro Artikel ist wirklich nicht billig, das bin ich glaub ich nur bereit für Premiumprodukte wie Dossiers oder Seiten 3 zu löhnen. Trotzdem: die Seite ist schön und vielleicht wird es ja noch billiger, schöne Grüße
    Max (der Autor)