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Das Corona-Tagebuch Die Krise als Chance ist eine naive Metapher

Kein absehbares Ende. Keine Strategien. Nur Markus Söder. Die Nachbarn auf den Balkonen nerven. Videokonferenzen auch. Die Ausgangssperre setzt unserem Autoren zu. Aber er ist auch fasziniert von dem zivilisatorischen Experiment.

Von: Benedikt Mahler

Stand: 02.04.2020 | Archiv

Portrait Benedikt Mahler | Bild: BR

Woche 4 - Ein surrealer Traum

Mein täglicher Corona-Spaziergang führt mich meistens durch den Englischen Garten in Uni-Nähe – hier habe ich die vergangenen Tage die skurrilsten Szenen erlebt. An Sonntagen sieht der Park wie ein Gefängnis-Innenhof aus, wo die Menschen gleichgültig im Kreis laufen. Drumherum zählte ich neulich 12 Streifenwagen, zwei Polizisten auf Motorrädern und zwei berittene Einheiten – ein Lautsprecherwagen blies unmissverständliche Anweisungen in die Luft: „Es gelten Ausgangsbeschränkungen. Rasten und Ruhen auf den Parkbänken ist verboten. Zuwiderhandlungen werden hart bestraft.“ Die Berittenen schritten auch sofort ein, als ein Vater mit seinem Sohn begann, einen Fußball hin und her zu kicken. Sport machen ist ja ok – aber doch nicht gemeinsam. Es ist Woche 4 der Ausgangsbeschränkungen. Wann ist dieser surreale Traum endlich vorbei?

Ich tue nicht nichts. Ich ertrage das.

Die Krise als Chance ist eine naive Metapher. Sie hat mich über die ersten Tage gebracht, aber sie taugt nicht, um die nächsten Wochen zu überstehen. Zeigt mir endlich eure Wunden, schreie ich in mich hinein. Es fehlt an allem! An allem wofür es sich zu leben und zu kämpfen lohnt. Vor allem an Menschen und gemeinsamem Erleben. Echte Kommunikation ist mehr als nur Informationsaustausch. Längst nerven mich alle Formen von Skype-Konferenzen, ich will keine gestreamten Konzerte oder Theateraufführungen mehr sehen. Meine vom Balkon musizierenden Nachbarn gehen mir auf den Keks. Das hätte doch vor Corona auch keiner hören wollen. Ich lese wieder mehr - immerhin. Wahrscheinlich ein inneres Bedürfnis nach einer rest-analogen Welt. Ich tue ja nicht nichts, denke ich mir. Ich ertrage das. Das macht mehr Arbeit als mir lieb ist, und das, obwohl ich gerade sehr wohl noch weiß, wofür das alles gut sein könnte.

Die Bedrohungen sind real

Aber es ist ein horrender Unterschied allein sein zu wollen – oder allein sein zu müssen. Wie viele Menschen sind gerade in echter Isolation, können keinen Besuch haben – in Krankenhäusern, Altenheimen und Hospizen? Wie lange können wir die vielen Risikogruppen aussperren, ohne ihnen damit ernsthaft zu schaden? Die Bedrohung ist längst nähergekommen. Der Opa meiner Mitbewohnerin, 84, Dialysepatient ist mit Corona infiziert worden und vor drei Tagen gestorben. Klar, Risikogruppe. Klar, er hätte auch eine Grippe nicht mehr überlebt. Wie schrecklich abgeklärt das mittlerweile schon über die Lippen geht. Heute fährt meine Mitbewohnerin zur Beerdigung – wie man einem Menschen in diesen Tagen die letzte Ehre erweist? Mir fehlt die Vorstellung.

Wir brauchen Strategien - Wir brauchen die EU

There is no Glory in Prevention, denke ich. Womöglich kommt man in Monaten, vielleicht Jahren zu dem Schluss, dass die Maßnahmen tatsächlich übertrieben waren? Aber: Wäre das denn so schlimm? Dieses zivilisatorische Experiment ist historisch einmalig: Eine Mehrheit nimmt zum Schutz einer Minderheit enorme Einschränkungen in Kauf. Menschenleben werden entschlossen über die Interessen der Wirtschaft gestellt. Ist das nicht genau die Art von Solidarität, die wir an anderer Stelle so oft vermissen? Doch bei alledem darf das Experiment ohne bessere Aussichten auf Erfolg nicht länger ein offenes Ende haben. Bis zum 19. April braucht es neue und stärkere Argumente, Erkenntnisse und Strategien. Es darf nicht länger das eine letzte Wort geben. Mit nichts tun Menschenleben retten, also statt zu tun nur noch zu lassen, das hat auch in der Klimadebatte nicht ausgereicht. Es gibt politischen Handlungsbedarf. Wir brauchen Europa. Jetzt. Und wir müssen die Idee der Euro-Bonds ernstnehmen.

Markus Söder schenkt uns die Freiheit? Ein Albtraum

Als ich so darüber nachdenke, dass es ja wahrscheinlich irgendwann einen Impfstoff gegen dieses Scheiß-Virus geben wird, taucht da plötzlich ein Bild von Markus Söder in meiner Timeline auf: Ein gealterter Markus Söder, mit langem grauen Bart, der sagt:  Es ist vorbei. Ihr dürft wieder raus! Ein Albtraum. Diese Erzählung darf es nicht geben: Dass es Markus Söder war, der uns einmal die Freiheit (zurück)geschenkt hat. Egal wie es weitergeht. Die offene Gesellschaft wird sich wappnen, wird aufarbeiten und nachbessern. Und sie allein muss es sein, die zu gegebener Zeit den öffentlichen Raum wieder vollumfänglich beherrscht.

Ich gegen Covid-19

Ich verlasse den Englischen Garten, gehe an der Staatskanzlei vorbei, durch den Hofgarten zur Residenz – wie jeden Tag. Am Seiteneingang vor den vier Bronzelöwen, denen Einheimische wie Touristen gerne mal die Schnauze streicheln, weil das Glück bringen soll, bleibe ich dieses Mal stehen. Ich fahre allen vieren übers Maul, ziehe danach triumphierend mein Sagrotanfläschchen heraus und denke mir – Eins zu Null für mich.


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