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Luise Diekhoff "Gezeitenkinder"

Luise Diekhoff nimmt uns mit ihrem zeitgeschichtlichen Roman mit ins Kinderheim Strandhafer auf die Insel Norderney. Dort arbeitet Hanna, die sich gegen die düsteren Methoden bei der "Kinderlandverschickung" auflehnt. Berührend.

Von: Dirk Kruse

Stand: 20.06.2023 | Archiv

Die 1971 geborene Simone Veenstra, die bei Forchheim in der Fränkischen Schweiz aufwuchs und in Erlangen und Groningen studiert hat, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Sie ist eine gefragte Drehbuch- und Hörspielautorin, hat Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben sowie drei amüsante Unterhaltungsromane für Erwachsene.

Jetzt hat Simone Veenstra das erste Mal einen Roman über ein zeitgeschichtliches Thema geschrieben und sich das Pseudonym Luise Diekhoff gewählt. In "Gezeitenkinder" erzählt sie von der Kinderlandverschickung in den 1960er-Jahren und den üblen Methoden schwarzer Pädagogik.

Rita ist zehn Jahre alt, als sie im April 1962 ins Kinderheim Strandhafer auf die Insel Norderney verschickt wird. Das untergewichtige Mädchen soll an der Seeluft ordentlich aufgepäppelt werden. Doch schnell eckt sie als aufsässig in dem Heim an, das mit harter Hand geführt wird.

"Rita saß auf dem viel zu großen, viel zu hohen und viel zu harten Stuhl vor dem Schreibtisch der Heimleiterin und baumelte mit den Beinen. Sie tat es schlicht und einfach, weil das eigentlich nicht erwünscht war. Mit den Beinen baumelten nur kleine Kinder. Keine über zehn. Und schon gar keine, die gut erzogen waren. Gut erzogene Kinder nämlich machten kleine, gut erzogene Schritte, schlenkerten weder mit den Beinen noch zu sehr mit den Armen beim Laufen und hielten den Kopf gerade. Sie schrien nicht, beschmutzten sich nicht, sie widersprachen nicht, redeten nur, wenn sie dazu aufgefordert wurden, taten, was von ihnen verlangt wurde, aßen auf, hatten kein Heimweh, logen nicht und vor allem: Sie bissen keine anderen Kinder."

Zitat aus dem Roman 'Gezeitenkinder'

In diesem Erzählstrang beschreibt Luise Diekhoff einfühlsam aus der Kinderperspektive, wie es sich anfühlt, verschickt zu werden und welche Traumata das auslöst. Die Kinder blieben mindestens vier bis sechs Wochen. Und das ohne Kontakt zu ihren Eltern, so die Autorin.

"Wenn das nicht gereicht hat, wurde immer wieder verlängert. Es gab Kinder, die waren bis zu einem halben Jahr oder manchmal sogar noch länger in diesen Heimen. Und natürlich fragen die sich irgendwann: 'Hat meine Mama mich dahin geschickt, weil sie die Schnauze voll von mir haben, und komme ich überhaupt wieder nach Hause?' Da gab es auch die Fälle, die nach einem Jahr nach Hause kamen und ihre eigenen Eltern nicht mehr erkannt haben. Und darüber hat man sich damals noch nicht so rasend viel Gedanken gemacht."

Luise Diekhoff im Interview

Hanna ist 24 Jahre alt und voller Idealismus, als sie als frisch gebackene Kinderpflegerin zur gleiche Zeit wie Rita im Kinderheim Strandhafer zu arbeiten beginnt. Die schüchterne Hanna ist gar nicht einverstanden mit den pädagogischen Maßnahmen dort, wo Kinder mit Neurodermitis gefesselt werden, damit sie sich nicht die Haut aufkratzen, Bettnässer in ihrem Urin liegen bleiben müssen und ein streng hierarchisches System ohne Widerrede herrscht.

"Kopfschüttelnd blättert Hanna in den vor ihr liegenden Akten der Kinder vor und zurück, während Marion Tee aufgoss. 'Sie sind unvollständig.' Hanna deutete auf die Ordner. 'Ich lese nichts von Friedas Anweisung, Manuel abends nichts zu trinken zu geben. Nichts über Piets Therapien, Bens Verbrennungen oder aber, weshalb Johannes die Nacht im Isolierzimmer verbringen musste.'

'Natürlich nicht.' Marion balanciert zwei Tassen zum Schreibtisch. 'Die Therapieaufzeichnungen bewahrt Dr. Gebhardt auf. Das, was du vor dir liegen hast, sind jene Heimdokumente, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind.'"

Zitat aus dem Roman 'Gezeitenkinder'

Im Haupterzählstrang folgen wir Hanna bei ihrem Versuch gegen das System der schwarzen Pädagogik aufzubegehren und Beweise zu sammeln. Dabei findet sie unvermutet Mitstreiter. Den jungen Holländer Jan, der 17 Jahre nach dem Krieg nach Spuren seiner Großmutter sucht, die in einem Kriegsgefangenenlager auf Norderney verschollen ist und den schrägen Hausmeister Wilko, der eine eigenen Erzählperspektive bekommt.

Auf das Thema der traumatischen Kinderlandverschickungen ist Luise Diekhoff zum einen durch ihre Mutter gekommen, die in Ebermannstadt lebt, aber als junge Frau auf Norderney als Kinderpflegerin gearbeitet hat. Und zum anderen durch einen Bekannten, der selbst verschickt wurde und schmerzhafte Dinge erlebt hat.

"Der sagte mir damals: Es bräuchte mal jemand mit deiner Freude an Recherche und die lange Zeit kein Sonnenlicht sehen muss, um sich mal die ganzen Archive vorzunehmen und zu schauen, was man noch rausfinden kann. Das habe ich gemacht. Das waren drei Jahre Recherchezeit. Ich habe angefangen im Landesarchiv, dann im Bundesarchiv, bin dann in die Städtearchive und war auch noch acht Wochen auf Norderney im Stadtarchiv."

Luise Diekhoff im Interview

Die Autorin fand unter anderem heraus, dass sogar überzeugte Nazis in Kinderheimen arbeiteten. So etwa die Schwester von Horst Wessel, die als Ingeborg Sanders ausgerechnet das ehemalige jüdische Kinderheim auf Norderney leitete.

"Was auch oft passiert ist, dass die vom Euthanasieprogramm kamen, darin gearbeitet hatten und dann untergetaucht sind. Und was macht man dann? Da macht man keine Arztpraxis auf, sondern man geht ins Kinderheim, weil einen dort keiner sucht. Also es gab verblüffend viele Heimleiter und Leiterinnen, die von ihrer Vorkriegsvergangenheit nicht astrein waren."

Luise Diekhoff im Interview

Info & Bewertung

Wertung: 5 Frankenrechen von 5 | Bild: BR

Luise Dieckhof: Gezeitenkinder, München 2023, Heyne Verlag, 400 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-453-27353-5

In diesem fiktiven, aber authentischen, gut recherchierten Roman wird die Geschichte der Kinderlandverschickung aufgearbeitet, an denen jeder achte Deutsche teilgenommen hat.

"Gezeitenkinder" ist ein Gesellschaftsroman, der gekonnt Zeitgeschichte in packenden Geschichten erzählt. Ein Roman zu einem wichtigen, bislang kaum beachteten Thema, der zum Mitfiebern und Mitfühlen einlädt.


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