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Jehuda Amichai Nicht von jetzt, nicht von hier

"Nicht von jetzt, nicht von hier" ist der einzige Roman des bedeutenden jüdischen Lyrikers Jehuda Amichai. Er wurde 1924 in Würzburg geboren, musste vor den Nazis fliehen und starb 2000 in Jerusalem. Ihm wird derzeit in Würzburg gedacht.

Von: Dirk Kruse

Stand: 17.04.2018 | Archiv

Buchtipp: Nicht von jetzt, nicht von hier, Jehuda Amichai | Bild: Verlag Königshausen & Neumann; Foto: BR-Studio Franken/Engeser

Wie setzt man sich als Jude, der die Shoa überlebt hat, mit dem Völkermord der Nationalsozialisten auseinander? Wie gedenkt man der ermordeten Freunde, Bekannten und Verwandten? Und wie geht man mit den Erinnerungen an eine Kindheit in Deutschland um, aus dem man brutal vertrieben wurde? Das sind die Fragen, die den Archäologen Joel Ende der 1950er-Jahre in Jerusalem umtreiben, nachdem er von seiner Heimatstadt Weinburg alias Würzburg und seiner im KZ ermordeten Jugendfreundin Ruth geträumt hat. Soll er die Vergangenheit vergessen und das Hier und Jetzt bedingungslos leben und genießen? Oder soll er ins nicht mehr existente Kindheitsparadies fahren und sich mit der eigenen und der Geschichte seines Volkes auseinandersetzen?

"Warum kehrte ich nach Weinburg zurück? Mit einem Traum hatte es begonnen und mit der Sehnsucht nach einer unwiederbringlichen Kindheit war es weitergegangen. Jetzt waren all diese Empfindungen in Rachegelüste wegen dem, was man der kleinen Ruth angetan hatte, umgeschlagen. Ich hatte viel Grauenhaftes von Rosenbaum, dem Sohn des jüdischen Metzgers von Weinburg, gehört. Wenige Stunden vor meiner Abreise war ich bei ihm im Institut gewesen, wo die Dokumente über die Gräueltaten der Nazis verwahrt werden."

Zitat aus dem Roman 'Nicht von jetzt, nicht von hier'

All diese Fragen um Heimat und Vertreibung, Vergessen oder Konfrontation, Rache oder Vergebung beschäftigten auch den 1924 in Würzburg geborenen Dichter Jehuda Amichai. In seinem großen Roman "Nicht von jetzt, nicht von hier", der bereits 1963 in Israel erschien, erst 1992 ins Deutsche übersetzt und nun für die Aktion "Würzburg liest ein Buch" wieder neu aufgelegt wurde, lässt Jehuda Amichai sein Alter Ego Joel beides tun. In der dritten Person beschreibt der Autor, wie der verheiratete Joel in Jerusalem bleibt, um dort eine Amour fou mit der amerikanischen Ärztin Patricia zu erleben. In der ersten Person erzählt er gleichzeitig, wie Joel nach Weinburg reist, um sich der Vergangenheit zu stellen und dort zahlreiche, teils surreale Begegnungen hat. Dieses dualistische Denken hat Jehuda Amichai in Israel gelernt, erklärte er Anfang der 1980er-Jahre bei einer Lesung in Würzburg.

"In Israel kann man nicht in einem Elfenbeinturm leben. Man kann sich nicht verschließen. Und jedes Liebesgedicht hat auch irgendwie mit Krieg zu tun. Und jedes Landschaftsgedicht hat mit historischen Dingen zu tun. Man kann es absolut nicht auseinanderhalten. In Israel geht alles zusammen. Wir müssen unsere Lieben haben im Krieg. Und wir müssen weinen und lachen. Wir müssen Steine werfen und Steine bekommen. Alles zusammen. Und das ist, was Israel vielleicht so reich macht an Erlebnis. Denn was immer geschieht, ist existenziell, ist immer eine Frage von Leben und Tod."

Jehuda Amichai

Info & Bewertung

Wertung: 5 Frankenrechen von 5 | Bild: BR

Jehuda Amichai: Nicht von jetzt, nicht von hier, Würzburg 2017, Verlag Königshausen & Neumann, 405 Seiten, 14,00 Euro, ISBN 978-3-8260-6187-5

Die beiden Versionen von Joels Geschichte werden eng miteinander verwoben und in kurzen Kapiteln wechselseitig erzählt. Dieses formale Experiment, das die Zerrissenheit Joels zeigt, macht die Lektüre des Romans anfangs schwierig. Doch nach einigen Kapiteln findet man hinein in diese berührende Geschichte. Und man wird belohnt mit einer ebenso präzisen wie poetischen Sprache. Denn Jehuda Amichai ist vor allem als Lyriker weltbekannt und galt zu Lebzeiten als aussichtsreicher Kandidat für den Literaturnobelpreis. Er ist ein Meister der Metapher, etwa wenn er die Wüstenstadt Jerusalem paradoxerweise mit einem Schiff vergleicht.

"Im heiligen Schweigen überschritt Jerusalem die Mitternachtslinie. Jerusalem schwimmt immer wie ein Schiff in der Zeit, vom Morgen bis zum Mittag und durch die Nächte in nie endender Fahrt. Mr. Cohen ging mit einem Tablett voller Süßigkeiten an der Tür vorüber. Auch er war ein Matrose, ohne es zu wissen. Alle sind Seeleute in Jerusalem und ahnen es nicht, Matrosen oder Passagiere, Maschinisten oder Kapitäne, jeder seinem Lebensweg und seinen Eigenschaften entsprechend. Und Joel wusste in diesem Augenblick – gleich, ob er in diesem Sommer dablieb oder nach Weinburg fuhr, um die kleine verbrannte Ruth zu erlösen –, er würde für immer fahren, für immer Seemann sein."

Zitat aus dem Roman 'Nicht von jetzt, nicht von hier'

"Ich glaube überhaupt, dass die Metapher die größte menschliche Erfindung war. Größer als die Erfindung des Rades und der Atomkraft und alles. Denn wenn ein Mensch die Kraft hatte, etwas zu sehen, was zu vergleichen mit etwas anderem war, ist das der größte Ausdruck. Das ist viel mehr Energie als eine Atomzersplitterung. Und eine der größten Metaphern war Gott mit Vater zu vergleichen, weil das die einzige Möglichkeit war, den Gottbegriff den Menschen klarzumachen."

Jehuda Amichai

Der Roman beruht auf autobiographischen Erlebnissen des Autors. Bereits 1959 besuchte Amichai seine Heimatstadt Würzburg das erste Mal wieder und streckte die Hand zur Versöhnung aus. "Nicht von jetzt, nicht von hier" ist nicht nur – je nach Betrachtungsweise – ein Meisterwerk der israelischen oder der fränkischen Literatur, es ist ein großartiges Stück Weltliteratur mit einer klaren Botschaft. Die Vergangenheit lässt sich nicht verdrängen. Sie muss in das Jetzt und Hier integriert werden.

Gedichtband von Jehuda Amichai

Info & Bewertung

Wertung: 5 Frankenrechen von 5 | Bild: BR

Jehuda Amichai: Gedichte, herausgegeben und übersetzt von Hans D. Amadé Esperer, Würzburg 2018, Verlag Königshausen & Neumann, 230 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-8260-6412-8

Wer den großen Lyriker Jehuda Amichai kennenlernen möchte, dessen Gedichte in rund 30 Sprachen übersetzt und vielfach vertont wurden, dem sei der soeben erschienene Auswahlband mit dem schlichten Titel "Gedichte" ans Herz gelegt. Hans D. Amadé Esperer hat die Auswahl zusammengestellt, mit viel Einfühlungsvermögen übersetzt und mit klugen Anmerkungen versehen. Jehuda Amichai, der sich selbst als postzynischer Humanist bezeichnete, verband den hohen Ton der Bibel mit dem Alltagshebräisch und widmet sich den großen Themen wie Liebe und Eros, Vertreibung und Krieg. In Israel ist Amichai ein Klassiker der modernen hebräischen Poesie. Seine Gedichte stehen in jedem Schulbuch und einzelne Zeilen daraus sind sprachliches Allgemeingut geworden. Als Ministerpräsident Yitzhak Rabin den Friedensnobelpreis erhielt, nahm er Jehuda Amichai mit nach Oslo, wo er bei der Feier seine Gedichte vortrug.


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