Meinung Warum es hilft, sich Twitter als globale Afterhour vorzustellen
Alle schimpfen auf Twitter. Man könne nicht mehr vernünftig miteinander diskutieren, heißt es. Aber konnten wir das je? Wenn wir Twitter jetzt verlassen, geht jeder wieder zurück in seine Nische. Und das halte ich für das größere Problem. Ein Kommentar.
Im folgenden Text wird für das Netzwerk X der frühere Name Twitter verwendet.
Der Deutschlandfunk verabschiedet sich von Twitter. Zu viel Hass. Zu viel Hetze. Kontrollstellen wurden gestrichen. Blaue Haken wurden käuflich. Der Algorithmus drosselt Reichweiten. Laut einer aktuellen Umfrage will jeder dritte Twitter-Nutzer das Netzwerk bald verlassen. Darunter Großaccounts wie Disney bis hin zum Landkreis Stade.
Twitter als Kaleidoskop
Dabei lassen sich ausgerechnet auf Twitter, paradoxerweise, die Filterblasen durchstechen, auf die alle schimpfen. Niemand will die Meinungblasen, aber alle filtern, was das Zeug hält. Auf Twitter wurde strategisch gefolgt, entfolgt, geblockt und gemeldet, bis der Algorithmus einem eine passgenaue Filterblase kreiert hat. Man wollte nicht mit den falschen Leuten gesehen werden. Kontaktschuld und so.
Aber man konnte und kann Twitter auch anders spielen. Als Kaleidoskop. Für ein offenes Weltbild hilft es, sowohl der Electronic Intifada als auch der Jerusalem Post zu folgen. Oder schwarzen, lesbischen "TERF"s genauso, wie aufstrebenden Jusos. Jeder Tweet führt in eine andere Nische.
Verwirre den Algorithmus!
Ich sitze in Giesing und verfolge eine Diskussion in Echtzeit über den Untergang der AirBnB-Kultur in den USA. Es geht um Klassenkampf, Gentrifizierung und Ausbeutung. Mittlerweile hat sich auch Lateinamerika dazugeschaltet. Warum erscheint das auf meiner Timeline? Welchen weitverzweigten Verwandtschaftsgrad habe ich mit der Posterin? Haben wir Follower gemein? Oder war es die Diskussion um brasilianische Käsebällchen, in der ich neulich zu lange herumgeklickt habe? Irgendetwas oder irgendjemanden haben wir gemeinsam. Über unsere Nischen hinweg.
Ich habe meinen Algorithmus über die Jahre so verwirrt, dass Twitter für mich eine einzige lärmende Party mit den unterschiedlichsten Menschen geworden ist, die alle ein bisschen fertig sind.
Es hilft, sich Twitter als eine globale Afterhour vorzustellen.
Die Timeline als Party zu vorgerückter Stunde. Alle labern sich von der Seite an. Schreien sich ins Ohr oder wollen kuscheln. Das endet mal in Verbrüderung und mal in einer Schlägerei. Aber ich kann ja weiterscrollen. Zum Zickenkrieg am Nebentisch. Zu den Insiderwitzen. Oder zur deepen Diskussion, die zwei völlig Fremde auf dem Flur führen. Oder noch deeper zu den Monologen.
Ich kann zuhören oder mich wegdrehen. Ich kann interagieren – ich kann es aber auch lassen. Und weiterscrollen. Ich erfahre, wie es offenbar zwischen linken Ex-Prostituierten und neoliberalen Escort-Damen Streit darüber gibt, wer die bessere Feministin sei. In Echtzeit.
Ich empfinde keine Kontaktschuld, weil meine Timeline nicht mein Freundkreis ist. Es ist für mich ein Fenster ins Chaos. Daher bleibt Twitter eine gute Möglichkeit, Themen zu entdecken, bevor sie groß werden. Weil ich nur hier in die Nischen komme. Und alle Nischen gleichzeitig auftauchen. Der Krankenpfleger, der Fitnessguru und die Prostituierte sind alle auf derselben Afterhour gelandet, auf meiner Timeline, weil sie, ohne es zu wissen, vernetzt sind. Und weil ich es zulasse.
Alle zurück in ihre Nische?
Das Problem ist, diese unendlich weit verzweigte Meute, die ist ja über Jahre gewachsen. Ich bezweifle, dass man diesen Wildwuchs 1:1 zu alternativen Plattformen transportieren kann.
Wenn wir Twitter jetzt verlassen, geht jeder zurück in seine Nische. Bei Mastodon zum Beispiel wird nach Interessen gefiltert, auf welchen Server du kommst. Da wird nach Sprachen und Regionen gefiltert. Da kommt niemand einfach so daher, und labert dich an. Und auf Blue Sky kommt man nur über Einladung rein. Na toll! Das sind keine vernetzten Nischen mehr, das sind Klubs.
Wenn wir Twitter jetzt verlassen, werde ich nie wieder erfahren, was eine Edelnutte über die FPÖ denkt. Und ich werde auch nie wieder erfahren, warum Kafka nie eine Chance bei den Peruanern hatte. Es sei denn, ich suche aktiv danach. Aber wer macht das schon.