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Das Corona-Tagebuch Wovon reden wir eigentlich, wenn wir zurück zur Normalität wollen?

Alle reden davon, jetzt endlich mal wieder zur Normalität zurück zu wollen. Aber von welcher Normalität reden wir da eigentlich? Die Reisefreiheit zum Beispiel wird auch nach der Krise ein Privileg bleiben.

Von: Maria Fedorova

Stand: 09.06.2020 | Archiv

Maria Fedorova | Bild: BR

Mitte April 2020, das geplante Homecoming: Ich will für zwei Wochen in meine Heimstatt Donezk in der Ukraine reisen. Es soll eigentlich ein Urlaub sein. Doch es fühlt sich eher wie eine Expedition an, die minutiös geplant werden muss. Denn Donezk heißt Grenzsperren, Militär auf den Straßen. Erstmal einen Flug in eine nahegelegene Stadt in der Ukraine oder in Russland buchen, dort auf ein Taxi hoffen, das mich durch die Blockposten bringt – das sind mindestens zwei oder drei. Einmal bin ich schon so gereist seit dem Kriegsbeginn. Das war vor fünf Jahren.

Homecoming mit Hindernissen

In Donezk lebt aber meine Familie. Seit fünf Jahren verlaufen unsere Treffen nach einem einseitigen Prinzip. Wann immer es möglich ist, kommt meine Mutter nach München. Doch nun war ich an der Reihe eine umständliche Reise zu planen – in diese abgekapselte Region, in die keine Züge fahren und keine Flugzeuge fliegen.

Und das nicht erst seit Corona. Dann kam die Pandemie nach Europa, damit auch die Ausreisebeschränkungen – und die Nachricht meiner Mutter: "Lass deine Reise verschieben, auf einen Zeitpunkt, wenn alles wieder normal läuft". Ist ja naheliegend und eigentlich nicht weiter schlimm. Doch bei mir hat die Nachricht ein Gewirr von Gedanken ausgelöst. Erst wurde ich stutzig, dann gereizt.

Reisen ist immer noch ein Privileg

Stutzig, weil die Krise diesen Besuch in ein neues Licht gerückt hat. In meinen Augen war die Reise eine Tour de Force: logistisch und emotional schwer zu bewältigen. Plötzlich wurde daraus ein Privileg. Vor Corona war ich im Stande die Entfernung zu überwinden. Unter schwierigen Umständen, ja, aber immerhin. Zu Hause in München zu bleiben ist nun viel belastender, die Distanz wirkt bedrohlich: was, wenn jemand in der Familie krank wird? Wieder wird mir klar, wie kostbar das Gefühl der Bewegungsfreiheit ist.

In der westeuropäischen Dekadenz ist dieses Gefühl selbstverständlich. Wenn im politischen Mainstream heute über die Öffnung der Grenzen gesprochen wird, werden die Grenzen gemeint, die erst durch die Pandemie entstanden sind. Leider nicht die Grenzen, die schon vor Corona für viele bedrohlich waren oder das Freiheitsgefühl einschränkten. Die Message nun also: Nur Geduld und warten auf back to normal! Wenn die Corona-Ausreisebeschränkungen aufgehoben werden, wird es für wenige heißen: Wieder mobil sein. Für die meisten auf dieser Welt aber: Weiterhin im Grenzen-und-Kontrollen-Schema denken zu müssen, weiter abgeschottet bleiben. Soll die globale Bewegungsfreiheit auch nach Corona ein Privileg von wenigen bleiben?

Was bedeutet dieses "back to normal" eigentlich?

Seit Wochen geistert das Wort "normal" durch die Schlagzeilen: "Zurück zur Normalität", "Wieder ein Stückchen Normalität", "Die Sehnsucht nach Normalität" – so gesehen die dritte Phase des Coronasprechs. In der Anfangsphase der Pandemie haben manche westliche Politiker*innen dem Virus einen Kampf, oft schlimmer noch, einen Krieg erklärt. Militärischer Jargon wird oft für Krankheiten benutzt, lässt aber kaum Raum fürs Soziale.

Im Alltag ist dann die Sprache des Miteinanders und der Beziehungen dazugekommen. Sie hat uns in der schwierigsten Zeit gestützt. Jetzt also die dritte Phase: die Normalisierungs-Debatte. Der Begriff ist mit so vielen positiven Affekten behaftet, die Sehnsucht der Stunde ist: wieder normal leben. Ich reagiere gereizt. Bedeutet wieder "normal" – "so wie früher"? Nach dieser Logik ist "so wie früher" für meine Familie – mitten in schleichenden militärischen Konflikt zu leben. Für die Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa – wieder ihr Zuhause verlassen, um für wenig Lohn die Fürsorgearbeit zu übernehmen. Für die Geflüchteten – wieder abgeschoben zu werden.

Diese Normalität vermisse ich nicht. Irgendwann wird diese Pandemie zu Ende sein. Die Frage ist aber: wie viel "back to normal" wollen wir eigentlich haben?


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