Bayern 2 - Zündfunk

"Identitätskrise" von Alice Hasters "Die Gesellschaft ist wie in der Pubertät"

Alice Hasters wählt ein gewagtes Bild, um den Krisenmodus unserer Gesellschaft zu beschreiben. Wir seien am Trotzen, Überhitzen und Ausloten von Grenzen. Ihr neues Buch "Identitätskrise" erzählt von den Krisen, die uns besonders herausfordern. Und wie wir darauf reagieren.

Von: Paula Lochte

Stand: 30.10.2023

Autorin Alice Hasters | Bild: BR

Es ist 2020. Du darfst nicht raus. Deine Freunde nicht treffen. Nicht ins Kino, nicht ins Café. Wenn du im Krankenhaus arbeitest, bekommst du immer noch zu wenig Geld. Aber die Leute klatschen jetzt für dich. Coronapandemie. Und: George Floyd ist gerade ermordet worden. Trump ist an der Macht und Deutschland im Rechtsruck.

Der Autorin Alice Hasters kam es damals so vor: "Die Gesellschaft ist wie in der Pubertät. Sie ist orientierungslos, sie wächst, sie verändert sich. Und die Symptome, die diese Gesellschaft zeigt, und dass sie zum Beispiel sich an komische Autoritätspersonen wendet und alte Werte oder Autoritäten hinter sich lässt, dass sie alles hinterfragt und selber nicht so richtig klarkommt, das hat mich an eine Pubertät erinnert."

Die Gesellschaft in der Identitätskrise?

Ein Teenager knallt Türen, schweigt demonstrativ oder schreit. Eine Gesellschaft in der Pubertät kann das auch: So emotional diskutieren, dass am Ende alle Parteien traurig, wütend oder beides sind. Gerade wenn es um die eigene Identität geht. In ihrem neuem Buch "Identitätskrise" schreibt Hasters:

Mich interessierte diese Emotionalität von allen Seiten. Diejenigen, die lange nicht gehört wurden, bekamen jetzt Aufmerksamkeit. // Wir schauten zurück auf die Dominanzgesellschaft, nein, wir starrten zurück, und viele hielten das kaum aus. // Identität ist eine Geschichte, die man über sich selbst erzählt. Eine Identitätskrise ist die Erkenntnis, dass diese Geschichte nicht mehr aufgeht. Auf einmal gingen so viele Geschichten nicht mehr auf, weil die Leute sich gegenseitig anstarrten und laut aussprachen, was sie sahen.

Gesellschaftliche Lebenslügen fliegen uns plötzlich um die Ohren. Wir sind eine der führenden Industrienationen – und verpesten damit den Planeten. Wir erinnern mahnend an den Nationalsozialismus – und übersehen rechten Terror heute. Wir wollen als Westen für Frieden und Freiheit stehen – und rüsten unsere Außengrenzen militärisch auf. Wir lieben die vielen Waren, die uns der Kapitalismus schenkt – und blenden die Ausbeutung aus, die dafür nötig ist.

Im Stresstest

Globale Krisen spülen diese Widersprüche an die Oberfläche, sagt Alice Hasters: "Die Klimakrise, es gibt Kriege, vermehrt Flucht, die Schere zwischen Arm du Reich geht immer weiter auseinander, wir haben Pflegenotstand, wir sind vereinsamt – sehr viele Krisen. Und ich glaube, wenn die Systeme um uns herum nicht mehr zu funktionieren scheinen, dann bedeutet das, dass sich was ändern muss und dass wir uns ändern müssen. Und das wiederum stürzt uns in eine Identitätskrise." Oder aber man wehrt sich mit aller Macht gegen diese Identitätskrise. Selbst wenn das bedeutet, dass dadurch alle anderen Krisen noch viel schlimmer werden. Im Buch heißt es:

Alice Hasters | Bild: Paula Winkler

Also, jetzt erst mal keine Panik. Komm mal runter. Immer diese Hysterie, diese Weltuntergangsstimmung, was soll das denn? // Wir sollten dankbar dafür sein, dass wir in einem Land leben, wo alles in Hülle und Fülle vorhanden ist. Dafür haben viele Menschen hart geschuftet. Auch die so verhassten alten weißen Männer übrigens. Besonders die. // Weißt du, was ich will? Ich will good vibes only. // Lass mal ein Glas Wein trinken. Lass mal eine Line Koks ziehen. Lass mal diese neue Sendung auf Netflix schauen. Was geht Neues auf Insta? Ich brauch Ablenkung. // Aber alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut. 

Es sind Passagen wie diese, die das neue Buch von Alice Hasters lesenswert machen. Das Buch beginnt erstmal wie ein ganz normales Sachbuch, das die Selbstherrlichkeit des Westens hinterfragt. „Keine so neue Analyse“, denkt man. Bis auf den Vergleich unserer Gesellschaft mit einem renitenten Teenager, der verfängt. Im zweiten Teil des Buches wird es dann sehr viel spannender. Denn Hasters verlässt die Essayform und schreibt stattdessen Dialoge. Monologe. Eine Kurzgeschichte. Sie widmet sich den Gefühlen, die eine Identitätskrise auslöst und dekliniert dabei die klassischen Phasen des Trauerns durch: Verdrängung, Wut, Verhandeln, Depression und schließlich Akzeptanz.

Und jetzt?

Heißt das, es gibt einen Weg raus aus der Identitätskrise? Wann ist die gesellschaftliche Pubertät überstanden? Vielleicht nie, sagt Hasters. Denn um all die Widersprüche, in denen wir stecken, aufzulösen, bräuchten wir einen echten Systemwandel. Müssten zum Beispiel dem Kapitalismus abschwören, meint Alice Hasters: "Ich glaube aber auch, dass Pubertät unterschiedlich verlaufen kann, nicht jede Pubertät ist schrecklich. Pubertät birgt halt das Risiko, das man auf die schiefer Bahn gerät, aber man kann auch gut durch sie durchkommen. Und man kommt halt auch nur aus der Pubertät raus, wenn man gewillt ist, erwachsen zu werden." Ob unsere Gesellschaft dazu bereit ist, das muss sie noch zeigen.

Der Zündfunk präsentiert Alice Hasters Lesetour in Bayern, am Mittwoch (1.11.) ist sie im E-Werk in Erlangen, am Donnerstag (2.11.) im Münchner Volkstheater.