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Die Schlange Gedeutete Natur: Die mythische Schlange

Stand: 06.09.2012 | Archiv

Schlangenbeschwörer in Bhopal-Indien | Bild: picture-alliance/dpa

Die biologischen Eigenschaften der Schlange inspirierten eine mythische Wahrnehmung, die bis in die älteste Vergangenheit der Menschheit zurückreicht und das kulturelle Schlangenbild nachhaltig prägte. In zahlreichen Schöpfungsmythen sind Schlangenwesen entweder als eigentlicher Ursprung allen Seins oder als assistierende Schöpfungsgottheit an der Weltentstehung beteiligt.

Ebenso oft stehen Schlangenwesen und die ihnen zwillingshaft verschwisterten Drachen auch mit dunklen, vernichtenden Kräften und apokalyptischen Prophezeiungen in Verbindung.
Schlangen haben uns also von Anfang an begleitet. Doch warum ausgerechnet sie? Warum ist gerade die Schlange ein derart enger Gefährte unserer kulturellen Evolution? Und weshalb erscheint sie einmal als Gott und einmal als Dämon, warum ist sie böse und gut zugleich, was prädestiniert sie für diese ambivalente Rolle?

Mythos als Erkenntnisform

Um die mythische Doppelnatur der Schlange zu verstehen, müssen wir uns einige Strategien und Ziele des mythischen Denkens ins Gedächtnis rufen. Mythen sind eine allen frühen Kulturen gemeinsame, archaische Form der Weltdeutung, des Weltverstehens und der Weltaneignung. Im Mythos verdichtet sich das Wissen von der Entstehung, der Einrichtung, der Beschaffenheit, der Entwicklung und dem Ende der kosmischen Ordnung. Das mythische Wissen entfaltet sich in ursprünglich mündlichen Berichten über das Wesen und Wirken göttlicher Erscheinungsformen und die Taten heldenhafter Menschen. Die als Tatsachen aufgefassten "wahren" Erzählungen bilden den Ausgangspunkt für kultische Handlungen, religiöse Systeme, soziale Beziehungen und künstlerische Darstellungen.

Weltdeutung und Weltaneignung

In seiner frühen, archaischen Form beantwortet der Mythos die Grundfragen nach den gestaltenden Kräften der Wirklichkeit und aller Mächte, die das Schicksal der Welt und des Menschen bestimmen. Da im Mythos Göttliches und Menschliches, Naturhaftes und Kulturelles, Ewiges und Vergängliches, Geschichte und Natur unauflösbar miteinander verschmolzen sind, erfasst er die Totalität der Wirklichkeit in einer umfassenden Gesamtschau mit fließenden Grenzen zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt.

Ein vollständiges Ordnungssystem der Wirklichkeit

Zu Beginn der Menschheitsgeschichte erscheint der Mythos nicht als Abbild oder Modell, sondern als eigentliches Wesen der Wirklichkeit. Die am Himmel stehende Sonne ist kein Symbol des Sonnengottes, sie ist der Sonnengott selbst in seiner sichtbaren Erscheinungsform oder in einer seiner zahlreichen Verkörperungen. Erst in der Auslaufphase des mythischen Weltbildes verschieben sich die Akzente hin zu einer mehr zeichenhaften Auffassung. Auf dieser Spätstufe wird der Mythos zur symbolischen Repräsentation unsichtbarer Naturmächte, verborgener Strukturen und Prozesse.

Das Göttliche als Ursache aller Wirkungen

Ursprung und Träger der mythischen Schöpfungsidee sind göttliche Wesenheiten, die den Kosmos auf unterschiedliche Weise, aber stets uranfänglich geschaffen haben. Von ihnen und ihren Kräften leitet sich alles ab, was am Himmel sowie auf und unter der Erde entstanden ist. Alle Naturkräfte sind Ausfluss ihrer schöpferischen Potenz, die den gesamten Kosmos durchdringt. Das Göttliche manifestiert sich dabei in verschiedenen Gestalten und Formen: als Dämon, als Elementargewalt, als personale Gottheit, als hierarchisch gestufter Götterhimmel.


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