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Download-Service Einsatz im Unterricht

Stand: 20.06.2016 | Archiv

Vorarbeit

Lernziele: Die Schülerinnen und Schüler werden über den "Hitler-Stalin-Pakt" vom 23. August 1939 informiert, der eine vierte Teilung Polens und eine erhebliche Erweiterung des sowjetrussischen Einflussgebietes in Ostmitteleuropa vorsah. Sie erfahren, wie Polen im September 1939 von Deutschland und der Sowjetunion niedergeworfen und zerstückelt wurde.
Darüber hinaus erhalten sie Einblick in die Methoden der Sowjetisierung in Ostpolen im Zeitraum 1939 bis 1941. Mit Verfolgung, Verhaftung, Deportation und Massenmord wollte das Stalin-Regime "Volks-/Klassenfeinde" auslöschen und Ostpolen seiner geistigen Substanz berauben.
Außerdem befassen sich die Schülerinnen und Schüler mit dem Schicksal zahlreicher nach Sibirien und Kasachstan deportierter Ostpolen, die nach dem Angriff Deutschlands auf Russland (22. Juni 1941) freigelassen wurden, sich im asiatischen Teil der Sowjetunion sammelten, in den Iran gelangten und von dort ins Exil in alle Welt verstreut wurden. Eine Rückkehr nach Polen kam nach Kriegsende für viele von ihnen nicht in Frage. Polen wurde von den Siegermächten nach Westen verschoben, ihre ostpolnische Heimat fiel an die Sowjetunion.

Einsatz im Unterricht

Anregungen zur Unterrichtsgestaltung: Deportationen, Vertreibungen und ethnische Säuberungen sind prägende Phänomene des 20. Jahrhunderts. Allein zwischen 1900 und 1950 müssen mehr als 60 Millionen Menschen - also knapp 15 Prozent der Gesamtbevölkerung Europas - vorübergehend oder dauerhaft ihre Heimat verlassen. Im Zuge dieser "Bevölkerungstransfers" kommt es immer wieder zu Massenhinrichtungen, Massenvergewaltigungen, Hungerkatastrophen und Zwangsarbeitsexzessen, die sich zu Genozid (Völkermord) und Klassizid (Auslöschung einer sozialen Klasse) steigern können.
Die in der Sendung geschilderte Odyssee der Ostpolen im Zweiten Weltkrieg ist in den Geschichtswerken heute eine Fußnote. Dennoch lohnt ihre Betrachtung im Unterricht, denn sie zeigt exemplarisch, wie totalitäre Regime gegen "Volksfeinde" (im Falle der Sowjetunion gegen "Klassenfeinde") vorgehen. Dies steht auch im Einklang mit den Lehrplänen für die Realschule und das Gymnasium, in denen im Geschichtsunterricht (9. Jahrgangsstufe) eine Betrachtung totalitärer Systeme vorgesehen ist.
Ein Einstieg ins Thema Wanderungsbewegungen dürfte angesichts aktueller Flüchtlingswellen nicht schwer fallen. Dabei erläutert die Lehrkraft, dass zwischen der Flucht von Menschen aus der, wie es die UNO definiert, "begründeten Furcht vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung" und Zwangsumsiedlung zu unterscheiden ist.
Die Zwangsmigration galt über Jahrhunderte als legitimes Mittel staatlicher Politik. Eine moralische Ächtung gab es kaum, so genannte "Bevölkerungstransfers" oder "ethnische Säuberungen" wurden sogar völkerrechtlich akzeptiert (Beispiele Westverschiebung Polens, Vertreibung der Ostdeutschen im Jahr 1945). Erst Ende des 20. Jahrhunderts fand - nicht zuletzt aus Angst vor unkontrollierbaren Flüchtlingsströmen - ein Umdenken statt. Angesichts der Kriege in Ex-Jugoslawien in den 1990er Jahren, verbunden mit Deportationen und Massenexekutionen, entschloss sich die internationale Gemeinschaft, Säuberungen dieser Art künftig nicht mehr hinzunehmen.
Laut dem Statut von Rom des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 1998 gelten Deportationen heute als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 1999 führte die NATO einen Luftkrieg gegen Serbien, um unter anderem Zwangsumsiedlungen zu stoppen und den Opfern eine Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen. Vertreibungs- und Völkermordaktionen führten auch dazu, dass der Internationale Strafgerichtshof 2009/2010 einen internationalen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir erließ.
Doch zurück zur Wanderung hunderttausender Ostpolen während des Zweiten Weltkriegs.

Nacharbeit

Nachbearbeitung: Anschließend wird der Klasse mithilfe einer Landkarte die Zwangsmigration der Ostpolen 1939-1941 und die anschließende Wanderung ins Exil nach Afrika, Indien und in andere Länder fern der Heimat verdeutlicht; die Schülerinnen und Schüler markieren wichtige Orte.
Zu Sicherung des Wissens beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler mit den Arbeitsblättern. Arbeitsblatt 1 (mit Audioclips 1 und 3) faßt wichtige Ereignisse chronologisch zusammen. Arbeitsblatt 2 (mit Audioclip 2) hilft, das Ausmaß der "Klassensäuberung" in Ostpolen zu verstehen. Arbeitsblatt 3 lenkt den Blick auf das Schicksal zahlreicher in die Sowjetunion deportierter Polen nach ihrer Freilassung.

Erweiterung

Das Vorgehen totalitärer Regime gegen "Volksfeinde": Die Lehrkraft konfrontiert die Schülerinnen und Schüler mit diesen Zitaten:

"Könnte man nicht das soziale und politische Kräfteverhältnis in einem Staate radikal ändern? Zum Beispiel durch die Ausrottung bestimmter Klassen der Gesellschaft?"

Felix Dserschinskij, erster Chef der politischen Polizei 'Tscheka' in der Sowjetunion, 1917

"Um unsere Feinde zu vernichten, brauchen wir unseren eigenen sozialistischen Terror. Von den hundert Millionen Einwohnern des sowjetischen Russlands müssen wir 90 Millionen auf unsere Seite ziehen. Was die anderen angeht, haben wir ihnen nichts zu sagen. Sie müssen ausgelöscht werden"

Grigorij Sinowjew, führender Funktionär der Bolschewiki in Petrograd, 1918

Arbeitsgruppen

Es werden Arbeitsgruppen gebildet, die sich mit Maßnahmen der sowjetischen Führung gegen ihre tatsächlichen oder mutmaßlichen Widersacher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigen.

  • Beseitigung der im Land gebliebenen Reste der Führungselite des Zarenreiches (1917 bis Anfang der 1920er Jahre).
  • Vorgehen gegen selbständige russische Bauern (Kulaken) während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ab 1929.
  • Säuberungen 1937/1938; Beseitigung innerparteilicher Gegner und der sowjetischen Militärführung durch Stalin.
  • Vorgehen gegen die Führungseliten im besetzen Ostpolen sowie in Estland, Lettland und Litauen ab 1939.

Die Ergebnisse werden vorgestellt. Es wird deutlich, dass Deportationen und Mordaktionen gängige Maßnahmen sind, um "Volksfeinde" und "Klassenfeinde" zu beseitigen. Der Führung der Sowjetunion geht es darum, gesellschaftlichen Gruppierungen, die als Opposition erkannt sind und die einer schnellen Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaftsutopie im Wege stehen, zu vernichten. Ist die Auslöschung einer sozialen Klasse beschlossen, sind Männer, Frauen und Kinder wert- und rechtlos. Das zeigt das Schicksal tausender polnischer Offiziersfamilien im Jahr 1940: Die Männer werden erschossen, ihre Frauen, Kinder und Angehörigen in sibirische Arbeitslager deportiert, aus denen es keine Rückkehr geben soll. In solchen Fällen spricht man vom Klassizid.
Des Weiteren bietet sich ein Vergleich mit den Herrschaftsmethoden des NS-Regimes an. Dabei geht es nicht darum, Opferzahlen gegeneinander aufzurechnen, ein "Verbrechensranking" aufzustellen oder das KZ- mit dem GUlag-System zu vergleichen, sondern bestimmte Muster des Grauens herauszuarbeiten und gemeinsame Merkmale zu ergründen. Im totalitären NS-System werden ebenfalls ganze gesellschaftliche Gruppen eliminiert. Während Stalin in Kategorien des Klassenkampfes denkt, denkt Hitler in Kategorien des Rassenkampfes (sein "Hauptfeind" ist das Judentum).

Diskussion

  • Warum brauchen totalitäre Ideologien dringend "Feinde des Volkes"?
  • Warum streben totalitäre Regime danach, "Feinde des Volkes" zu beseitigen?
  • Warum finden Machthaber wie Hitler und Stalin problemlos willige Helfer beim Vorgehen gegen "Feinde des Volkes"?
  • Warum sind die Helfer von Staatsterroristen oft davon überzeugt, dass es keine individuelle Schuld an den Verbrechen gibt?

Auch diese Fragen können im Zusammenhang mit der Sendung behandelt werden:

  • Warum belasten die Deportationen und Mordaktionen in den Jahren 1939 bis 1941 das polnisch-russische Verhältnis bis heute?
  • Warum tut sich Russland schwer, die Sowjetisierungsverbrechen historisch aufzuarbeiten (von einer juristischen Aufarbeitung ganz zu schweigen)?

Lehrplanbezug

Lehrplan für die bayerische Mittelschule
Geschichte - Sozialkunde - Erdkunde
8. Jahrgangsstufe
8.6 Demokratie und NS-Diktatur
8.6.4 Außenpolitik und Zweiter Weltkrieg
- Entfesselung des Zweiten Weltkriegs

Lehrplan für die bayerische Realschule
9. Jahrgangsstufe
9.5 Totalitäre Herrschaft, Zweiter Weltkrieg und die Folgen
Totalitäre Systeme in Europa
- der Stalinismus in der UdSSR
Die nationalsozialistische Diktatur
- Außenpolitik
Der Zweite Weltkrieg
- europäischer Unterwerfungskrieg, Vernichtungskrieg im Osten, "totaler" Krieg
- Terror, Widerstand und Kollaboration in Europa
Die Bilanz von Diktatur und Krieg
- Opfer, Zerstörungen und Not
- Verantwortung und Schuld

Lehrplan für das bayerische Gymnasium
Geschichte
9. Jahrgangsstufe
9.2 Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
- totalitäre bzw. autoritäre Systeme in Europa am Beispiel des sowjetischen Stalinismus oder des italienischen Faschismus im Überblick
- Ideologie des Nationalsozialismus, u. a. "Rassenlehre", Antisemitismus und "Führergedanke"
- Expansions- und Eroberungspolitik des "Dritten Reichs"; Zweiter Weltkrieg
- Kriegswende und "totaler Krieg", Kriegsende in Europa und Asien


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