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Eine polnische Odyssee im Zweiten Weltkrieg Hintergrund

Stand: 20.06.2016 | Archiv

Roter Terror in Ostpolen

Der den Russen zugeschlagene Ostteil Polens umfasst 200.000 Quadratkilometer. In der multiethnischen Region leben etwa 13 Millionen Einwohner; knapp 40 Prozent sind Polen, den Rest stellen nationale Minderheiten wie Ukrainer, Weißrussen und Litauer.

Mit der Roten Armee kommen Sondereinheiten des Innenministeriums ins Land, die unverzüglich die polnische Verwaltung zerschlagen und ethnische Gruppen, die in der Vergangenheit oft unter Diskriminierung litten, gegen die polnische Führungsschicht aufwiegeln ("Rache an den polnischen Pans"). Mit Unterstützung polnischer Kommunisten werden die gesellschaftlichen Eliten drangsaliert, Bauern enteignet, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Beamte, Polizisten und Adelige verhaftet. Auch die katholische Kirche gerät unter massiven Druck. Die Polizeistaatsmethoden und der politische Terror, den die Besatzer in Ostpolen praktizieren, sind längst in der Sowjetunion erprobt, wo sich "entschlossene, harte und hingebungsvolle Genossen" der "Volksfeinde" annehmen.

Die Rote Armee entwaffnet polnische Truppenteile und bricht den Widerstand versprengter Einheiten mit Gewalt. Etwa 250.000 Soldaten geraten in Gefangenschaft. Die Offiziere werden von den Mannschaften getrennt und in Speziallager gesperrt. Im März 1940 beschließt das Politbüro der KPdSU die Liquidierung dieser "Klassenfeinde", rund 15.000 Personen fallen der Geheimaktion zum Opfer. Der Ort Katyn nahe Smolensk, Schauplatz des Mordes an über 4.000 Offizieren, wird später zum Symbol für sowjetische Verbrechen an Polen. Weitere Stätten des Grauens sind Pjatichatki bei Charkow und Miednoje nahe Kalinin. Jahrzehntelang leugnet die sowjetische Führung die Schandtat, erst im April 1990 erfolgt das offizielle Eingeständnis.

Für den rachsüchtigen Diktator Jossif Stalin, der seit der verlorenen Schlacht vor Warschau im Russisch-polnischen Krieg 1920 noch eine Rechnung mit dem Nachbarstaat offen hat, ist der Schlag gegen die patriotisch gesinnte polnische Führungsschicht eine Genugtuung. In seinen Augen steht die politische, wirtschaftliche und geistige Elite Polens einer Sowjetisierung des Landes im Wege.

Deportationen in den "befreiten Gebieten"

Anfang November 1939 werden die ostpolnischen Territorien in die Weißrussische und die Ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert. Für die "befreiten Gebiete" - und die Vernichtung deren geistiger Substanz - ist das sowjetische Innenministerium (NKWD) zuständig. Nach der Verhaftung zahlreicher Politiker, Beamter, Priester, Polizisten und "Kapitalisten" geraten ihre Familien - wie auch die Angehörigen der ermordeten Offiziere - als potentielle Widerständler ins Visier des NKWD. Den Polen gelingt es kaum, Untergrundstrukturen aufzubauen - weil die Besatzer diejenigen Personen, die dazu in der Lage wären, umbringen oder wegholen.

In vier großen Deportationswellen werden 1940/41 nach polnischen Schätzungen 1,5 Millionen (nach russischen Angaben 475.000) Männer, Frauen und Kinder in Gefängnisse und Straflager nach Sibirien und Kasachstan verschleppt, wo sie - ihren Tod einkalkuliert - Zwangsarbeit leisten müssen. Für solch eine systematische Auslöschung einer sozialen Klasse hat der Soziologe Michael Mann den Begriff Klassizidgeprägt.

Deutscher Angriff auf Russland - Stalin braucht Verbündete

Am 22. Juni 1941 greift Hitler-Deutschland die Sowjetunion an. Unter dem Druck des Vormarschs der Wehrmacht vollzieht Stalin eine Wende in seiner Polenpolitik. Nach Gesprächen mit der polnischen Exilregierung in London wird im Juli ein Abkommen geschlossen, das unter anderem eine Amnestie für Häftlinge und Deportierte vorsieht. Tausende Verbannte verlassen die GUlag-Orte. Viele Polen machen sich auf den Weg in Richtung Westen; Frauen und Kinder irren auf sich allein gestellt durch Russland.

Eine sowjetisch-polnische Militärvereinbarung vom August 1941 sieht die Bildung einer polnischen Streitmacht vor - ausgestattet mit russischem Material, unterstellt der Exilregierung in London. General Wladyslaw Anders (1892-1970), im Kampf gegen die Rote Armee 1939 schwer verwundet, eben noch Häftling im berüchtigten Moskauer Gefängnis "Lubjanka", wird zum Befehlshaber der Truppe ernannt. Er errichtet sein Hauptquartier in der Stadt Busuluk etwa auf halbem Weg zwischen Orenburg und der Wolgametropole Samara. Bald strömen Polen - Soldaten wie Zivilisten - in Richtung Anders-Stützpunkt, wo sie oft in bedauernswertem Zustand ankommen.

Fahrt ins Ungewisse - Polen verlassen die Sowjetunion

1942 wird das Quartier der Anders-Armee nach Jangi-Jul (Provinz Taschkent) verlegt. Nicht zuletzt weil Anders' Ansprechpartner Fragen nach dem Verbleib der 15.000 im Jahr 1940 ermordeten Offiziere nur ausweichend beantworten, kommt es zu Spannungen im polnisch-russischen Verhältnis. Die Versorgung und Unterbringung der 70.000 Soldaten und etwa genau so vielen Zivilisten ist miserabel, Krankheiten grassieren, viele Menschen sterben.

In der Hoffnung auf Versorgung durch die Briten empfiehlt Anders die Verlegung seiner Truppe in den Iran. Frauen und Kinder sollen als "Angehörige der Armee" mitgenommen werden. Wenngleich Stalin den Abtransport zeitweise stoppt, lässt er die Polen schließlich ziehen. Über Krasnowodsk am Kaspischen Meer gelangen etwa 110.000 Polen mit Schiffen halbverhungert ins persische Pahlevi. Einige hundert Kinder werden über den Landweg von Turkmenistan in den Iran gebracht.

Wenige Monate nach der Ausreise, im April 1943, meldet die deutsche Goebbels-Propaganda den Fund der Leichen tausender mit Genickschüssen ermordeter polnischer Offiziere im Wald von Katyn. Die polnische Regierung in London fordert eine Untersuchung durch das Rote Kreuz, wenig später bricht Moskau die Beziehungen zu den Exilpolen ab.

Die Odyssee geht weiter

Anders' Soldaten kommen auf dem westlichen Kriegsschauplatz an der Seite der Briten zum Einsatz und bewähren sich vor allem bei Kämpfen in Italien. Die meisten Zivilisten finden, nachdem sie im Iran wieder zu Kräften gekommen sind, eine neue Bleibe in der Emigration. 24.000 Menschen reisen per Schiff nach Afrika, etwa 10.000 machen sich über Land auf den Weg nach Indien. Andere verschlägt es nach England, Australien, Neuseeland, Nord- und Südamerika. 1945 zählen sie zu den Verlierern des Krieges. Auf Druck Stalins, der den Besitz der ihm 1939 von Hitler zugestandenen Gebiete verlangt, geben die Alliierten Polen preis und stimmen einer Westverschiebung des Landes zu (Beschlüsse der Konferenz von Jalta; 4. bis 11. Februar 1945). Ostpolen hört auf zu existieren.

Die meisten Angehörigen der Anders-Armee bleiben nach 1945 im westlichen Exil - wohl wissend, dass sie von den Verbündeten verraten wurden. Wer es wagt, in die Heimat zurückzukehren, muss mit Verfolgung und Verhaftung rechnen. Bis 1989 ist Polen ein Vasallenstaat des Sowjetreiches, in dem man über die Morde und Deportationen in den Jahren 1939 bis 1941 nicht spricht. Erst nach der Wende wird das gesellschaftliche Tabu gebrochen.


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