Bayern 2 - radioWissen


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Eine Kulturgeschichte der weiblichen Keuschheit

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Antje Dechert

Stand: 22.07.2019 | Archiv

Ethik und PhilosophieMS, RS, Gy

Jungfräulichkeit: Ist das Schnee von gestern, nur noch peinlich? Oder doch ein Modell weiblicher Stärke und Selbstbestimmung? Vielleicht von allem etwas. Aber auf alle Fälle mehr als Hymenterror, Frömmelei und Fundamentalismus.

Jungfrau und Jungfräulichkeit, wie klingt das denn bitte? Taufrisch jedenfalls nicht. Eher verstaubt, altmodisch, abgestanden. Auf jeden Fall wie etwas, auf das wir achselzuckend, vielleicht aber auch verstört, verschämt oder ganz einfach nur ratlos reagieren. Möglicherweise machen uns die Reizworte sogar zornig: Weil sie so unerträglich nach Frömmelei und Fundamentalismus, nach unterdrückter Sexualität, nach Männerherrschaft und Frauenopfer, nach Hymenterror und Bettlakenschnüffelei, nach Unbeflecktheitswahn oder gar Ehrenmord und Genitalverstümmelung schmecken.

Ein Thema mit vielen Facetten

Aber lohnt es sich wirklich, mehr als ein beiläufiges Stirnrunzeln in ein Phänomen zu investieren, das so gar nicht mehr in unsere Zeit zu passen scheint? Was ist schon groß dran: Eine Jungfrau ist eine Frau, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatte. Das war es dann, Punkt! Oder doch nicht? Gibt es über die nüchtern-medizinische Feststellung hinaus vielleicht doch Aspekte, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, die uns staunen und sehen, die uns mehr begreifen und verstehen lassen? Die gibt es. In Hülle und Fülle!

Selbstbestimmung und Männerherrschaft

Kultur-, religions- und gesellschaftsgeschichtlich betrachtet, ist der "Mythos Jungfrau" ein hochspannendes Phänomen mit einer überraschenden Bandbreite unterschiedlichster Erscheinungen, Deutungen und Funktionen. Die Jungfrau ist jedenfalls mehr als nur die, die keinen oder noch keinen Mann abgekriegt hat. Im Gegenteil. Sie steht in Vergangenheit und Gegenwart für weibliche Stärke, Widerstandskraft und Unabhängigkeit. Das ist die eine Seite, die strahlende. Die andere Seite ist das Bestreben, die Herrschaft über das Hymen als Herrschaft über den weiblichen Körper zu installieren: Der Jahrtausende währende Versuch, im Lobpreis der Jungfräulichkeit die Sexualität und die Selbstbestimmung der Frau zu kontrollieren und zu unterdrücken. "Jungfräulichkeit", so fasst es die Kulturwissenschaftlerin Anke Bernau zusammen, "kann vieles bedeuten, aber harmlos oder unschuldig waren und sind diese Bedeutungen nie".


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