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Zappelphilipp Interview mit Connie Walther und Silke Zertz

Stand: 30.10.2012

Von links: Boris Schönfelder (Produzent), Birgit Gudjonsdottir (DOP), Connie Walther (Regie), Bibiana Beglau (Rolle: Hannah Winter) und Magdalena Prosteder (Producerin). | Bild: BR/Kerstin Stelter

Regisseurin Connie Walther und Drehbuchautorin Silke Zertz im Gespräch über

… die Entstehung des Projekts
Silke Zertz: Die Idee zu diesem Film entstand bereits vor sieben Jahren. Mich hat schon immer interessiert, wie eine Gesellschaft mit ihren Kindern umgeht, insbesondere mit ihren schwierigen Kindern. Welchen Zwängen unterliegen wir, welchem Anpassungsdruck setzen wir unsere Kinder aus, und welche Lösungen entwickeln wir? Sind die Medikamente, mit denen hyperaktive Kinder ruhig gestellt werden, wirklich ein Segen, wie es ein Teil der Experten vertritt, oder sind sie nur eine schnelle Lösung? Diese Fragen haben mich beschäftigt, und ich wollte daraus einen kontroversen Stoff für einen Fernsehfilm entwickeln. Mit dem Produzenten Boris Schönfelder habe ich schnell einen Partner gefunden, der das Interesse an diesem Stoff geteilt hat. Dann allerdings sind wir gemeinsam einen weiten Weg gegangen. Wir haben lange, lange an dem Drehbuch gearbeitet, viele Klinken geputzt und sind auf viel Skepsis gestoßen: Ein Film über ein Thema, das sogar die Experten entzweit? Mit einem Neunjährigen in der Hauptrolle? Bettina Ricklefs vom Bayerischen Rundfunk ist zu danken, dass sie von Anfang an an den Stoff geglaubt und ihn schlussendlich ermöglicht hat. Nachdem wir dann Connie Walther für die Regie gewinnen konnten, eine mehrfache Grimme-Preisträgerin, stiegen die Erwartungen, aber auch die Arbeit am Buch begann noch einmal von Neuem, eine Zeit voller kontroverser, aber sehr fruchtbarer Gespräche, in denen wirklich um jedes Wort, jede Einstellung gerungen wurde. 
Connie Walther: Aber jedes Thema braucht einfach auch seine Zeit. Die Gesellschaft wacht jetzt allmählich auf und erkennt nach und nach, dass etwas verkehrt läuft, wenn Kinder massenhaft medikamentiert werden. Wenn ein Film thematisch vor seiner Zeit ist, erreicht man niemanden.
Silke Zertz: Richtig, das Thema ist in der gesellschaftlichen Mitte angekommen, die Sensibilität ist höher als vor sieben Jahren.  Viele Menschen stellen sich die Fragen, die wir auch stellen.

… über ADHS
Silke Zertz: Es wird viel geschrieben und geredet vom „Verlust der Kindheit“, und auch für mich war und ist das immer ein großes Thema.  Die Kindheit zu betrachten als Wert an sich, und nicht als möglichst schnell zu überbrückende Schwächephase auf dem Weg zum Erwachsenenwerden, dieses Denken kommt uns abhanden. Dem Kind wird mehr und mehr aberkannt, sich die Welt durch Spiel zu erobern, an seine Stelle tritt Unterricht und immer früheres, durch Erwachsene gestaltetes Lernen.  Der Anpassungs- und Normierungsdruck ist groß geworden, das Leben hat sich beschleunigt, die Ängste der Eltern zugenommen, gleichzeitig verschwinden kindliche Erlebniswelten und werden durch einen völlig entgrenzten virtuellen Raum ersetzt. Also, frage ich mich, worüber wundern wir uns, wenn wir im System Schule mit einem Phänomen wie ADHS konfrontiert werden? Ist es nicht sogar selbstverständlich, dass sich die noch im Wachstum befindlichen kindlichen Gehirne in einer solchen Welt anders verschalten? Dass in einem Umfeld von Reizüberflutung auch ganz andere Intelligenzen hervorgebracht werden? Wir sprechen stattdessen von einer Krankheit und rufen nach einer (schnellen) Lösung; wir sprechen von einer Verhaltensstörung und nicht von einer Verhältnisstörung.
Connie Walther: Aus ärztlicher Sicht wird ADHS natürlich ganz anders wahrgenommen. Als Arzt ist man dazu verpflichtet, Menschen zu helfen. Die schnelle Lösung aus medizinischer Sicht liegt daher auf der Hand: Sie heißt Methylphenidat. Studien belegen, dass sich durch die Medikamentierung die schulischen Leistungen der Kinder praktisch sofort verbessern lassen. Das ist oft eine große Erleichterung für die Kinder und vor allem auch für die Eltern, die zum ersten Mal erfahren, dass ihr Kind im Schulsystem erfolgreich ist.  Wenn die Eltern den Ärzten dankbar davon berichten, „dass jetzt alles besser läuft“, nimmt man als  Arzt gern an, man habe alles richtig gemacht.

… über den Begriff "Inklusion"
Silke Zertz: Als ich begonnen habe, mich mit dem Thema ADHS zu beschäftigen, hat kaum jemand über Inklusion gesprochen, wir haben den Film auch unabhängig von der jetzigen Debatte entwickelt. Uns geht es nicht um eine politische Aussage, sondern wir wollen mit unserem Film Fragen stellen, nicht mehr aber auch nicht weniger.
Connie Walther: Im Geiste Groucho Marx’ kann ich hierzu nur sagen: Wenn Inklusion zur Norm wird, dann bin ich schon wieder dagegen. Dahinter steht ja letztlich doch der Wunsch nach einem Modell, das allem gerecht wird, keinen ausschließt. Ich glaube, das gibt es nicht.

…über die Botschaft des Films
Silke Zertz: Mit dem Film wollen wir keine Pharmadebatte führen und vor allem keine Lösungen anbieten. Es soll sein wie im Leben, der Zuschauer muss sich der Frage aussetzen, „Wie würde ich entscheiden, wenn es mein Kind wäre?“ Wir erzählen ein Einzelschicksal, ein Kind, das sich außerhalb der Norm bewegt, das „nicht funktioniert“. Und das erheblichem systemischem Druck ausgesetzt ist, genau wie seine Lehrerin, und wie alle anderen Lehrer, Eltern, Rektoren, Mitschüler, alle bewegen sich innerhalb systemischer Grenzen. Wir erzählen davon, wie schwer es ist, selbst für die, die beste Absichten haben wie Fabians Lehrerin Hannah Winter, die viel Zeit, Liebe und Kraft investieren, diesen systemischen Zwängen zu entkommen. 
Connie Walther: Filme, die eine vordergründige Botschaft vermitteln wollen, finde ich schwierig. Unser Film versucht, die Welt einzufangen, in der wir leben. Wie wollen wir  leben? Auch wenn im Zentrum unseres Films ein Kind mit einer ADHS-Diagnose steht, geht es im Kern um diese  Frage, die sich nicht nur betroffene Eltern stellen sollten, sondern jeder Einzelne. In einer idealen Welt bräuchte man in der überwiegenden  Mehrzahl der Fälle gar keine Medikamente für das Phänomen ADHS. In einer idealen Welt würde es Zeit und Zuwendung in der Fülle geben, in der sie jedes Kind bräuchte. Man würde das eigene Leben entschleunigen, anders leben. Aber die Verhältnisse sind, wie sie sind, das Leben ist, was es ist. Der Film kann und will  keine einfache Antwort geben.. 
Eine schnelle Zeit erwartet schnelle Lösungen. Aber vielleicht ist der Zweifel, die Unsicherheit, etwas, dem man nachfühlen sollte? Ich glaube, die ehrliche Aussage „Ich weiß es nicht“ wird oft unterschätzt. Darum steht sie am Ende unseres Films.

… über die Herausforderung des Drehbuchs an die Regiearbeit
Silke Zertz: Eine große Rolle spielen Räume. Kinder bewegen sich in Räumen, die durch Erwachsene gestaltet sind, sie sind stets durchgetaktet, beaufsichtigt, angeschnallt, Fahrplänen unterworfen, festen Sitzplätzen zugeordnet.  An einer Stelle im Drehbuch bringt es Hannah Winters Kollege Friedrich Herford auf den Punkt: „Das Schönste an der Schule war für mich immer der Schulweg.“  Zeit zu bummeln, herunterzukommen, das Taschengeld auszugeben, Eindrücke rechts und links der Straße zu sammeln, wo ist sie? Wie viele kindliche Erlebnisräume wie der Schulweg sind inzwischen aus den Lebenswelten der Kinder eliminiert? Im Film finden wir Ausdruck für diesen gesellschaftlichen Zustand durch die vielen Verkehrsströme, die Schienentrassen, Stromleitungen, die ganzen Systeme, die Lebensadern unserer Welt geworden sind. Nur einen einzigen Ausbruch in die Natur gibt es, der deshalb umso mehr emotionale Wucht bekommt.
Connie Walther:  Filmisch haben wir nach einem Ausdruck gesucht, die Welt, in der wir leben, abzubilden. Da gab es dann irgendwann die Idee mit den Vogelperspektiven: Welchen Abstand bracht man, um die Welt zu erkennen? Welche Geschwindigkeit braucht es? Wir haben die Verkehrsströme verlangsamt, den Ton entfernt  Es ist der Versuch, auszubrechen aus der Normalperspektive. Auf der anderen Seite ist Authentizität  etwas, was mir viel bedeutet. Ich muss immer erst wissen, wie sich eine Situation anfühlt, ich brauche die Orte, die Räume. Ich brauche die Schauspieler. Um mehr von der Wirklichkeit zu erfahren, habe ich im Vorfeld der Arbeit zwei Tage lang eine Freundin von mir begleitet, die Lehrerin an zwei Schulen ist.  Später sind wir zur Vorbereitung mit allen Schauspielern einen Tag in die Münchener Manzoschule gefahren, in der wir auch gedreht haben. Dort konnte jeder Schauspieler/jede Schauspielerin  sich und ihre/seine Rolle der Lehrerschaft vorstellen und im Anschluss Fragen an die Lehrer stellen. Das war hochspannend für beide Seiten. Diese wertvollen Geschichten, die die Schauspieler erfahren haben, sind für die darstellerische Umsetzung natürlich großartig, das ist erlebte Erfahrung. So kam es auch, dass die echten Lehrer  in kleinen Rollen oder als Komparsen auftauchen. Das war ein großes Geschenk.

… über die Besetzung
Connie Walther: Bibiana Beglau kennt man, klar. Aber sie ist eine Schauspielerin, die in den letzten Jahren großartige Sachen vor allem an Theatern gemacht hat. An Dorthe Braker und ich haben sie uns dort gemeinsam angeschaut und waren uns schnell sicher, dass Bibi die richtige Besetzung für die Figur der Hannah ist. Für alle Rollen war es entscheidend, dass wir SchauspielerInnen finden, die diese Figuren verkörpern können und nicht  SchauspielerInnen besetzen, hinter deren Popularität die Figuren fast  verschwinden. Und dann ging es ja auch darum, das Lehrerensemble stimmig zu besetzen, das war sehr spannend. Ich glaube, wir haben da genau geschaut und die Chemie stimmt. Für die Rolle des Fabian Haas haben wir ein Kind gesucht, das all das mitbringt, was ein ADHS-Kind gemeinhin zeigt. Ich kann mir den Film gar nicht mehr ohne Anton vorstellen. Er ist großartig.
Silke Zertz: Anton Wempner straft all die Lügen, die den Stoff für unverfilmbar hielten. Wie man sich irren kann – nicht wahr? Der Junge ist großartig, sein Spiel so konzentriert, professionell und unter die Haut gehend, dass man nur den Hut vor ihm ziehen kann.  

… über die Dreharbeiten mit einem Kind
Connie Walther: Schwierig war der Zeitstress: man hat ja immer nur drei Stunden Drehzeit mit Kindern und das macht die Organisation des Drehs schwieriger und mitunter sehr umständlich. Mit den Kindern selbst zu arbeiten, war ganz leicht. Anton ist elf. Die andern Kinder waren zwischen neun und zehn Jahre alt. Da alle aus dieser Klasse einzeln gecastet waren, wussten wir, dass sie ganz ungezwungen mit der Kamera umgehen konnten. Da sie den Schulbetrieb kennen, wurde nichts von ihnen verlangt, was ihnen fremd ist. Es war wirklich toll, sie hatten enorme Spielfreude. Wir haben bei Anton dann aber doch mit einem Trick gearbeitet. Da er im Film neu in die Klasse kommt, haben wir ihn im Vorfeld der Dreharbeiten und bis zu diesem Moment von den anderen Kindern isoliert. Er traf also wirklich zum ersten Mal vor der Kamera auf Kinder, die sich schon kannten. Das war schwer für ihn, und er mochte es nicht, hat es aber verstanden, warum ich das haben will.  Dadurch gelang es, dass er tatsächlich als  „Neuer“ in die Klasse kam und  alle total neugierig auf ihn waren.
Kinder in diesem Alter besitzen eine hohe Integritätsfähigkeit, wenn man ihnen die Möglichkeit lässt. Sie waren sehr liebenswert im Umgang miteinander. Ich war wirklich traurig, als wir nach der ersten Drehhälfte fertig mit den Kinder-Dreharbeiten waren. Sie waren plötzlich weg und es fehlte etwas.


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