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Der letzte Friede vor Hitlers Krieg Glossar

Stand: 23.09.2013 | Archiv

BegriffErklärung
AppeasementIn den Jahren 1937 bis 1939 verfolgt vor allem die Regierung Großbritanniens eine Politik der Befriedung (oft wird auch von Beschwichtigung gesprochen) gegenüber dem Diktator Hitler. Mit Zustimmung des Parlaments und gestützt auf eine öffentliche Meinung, die nach dem Schrecken des Ersten Weltkriegs weitere Waffengänge ablehnt, ist Premierminister Neville Chamberlain bereit, Wünsche Berlins zu erfüllen, um den Frieden zu sichern und Stabilität in Europa zu schaffen. Doch je mehr die Appeasement-Befürworter dem aggressiven Machtmenschen Hitler entgegenkommen, desto dreister werden seine Forderungen. Seither gilt das britische Regierungshandeln als abschreckendes Beispiel dafür, wie eine gut gemeinte Entspannungspolitik scheitern kann. Das Münchner Abkommen von 1938 ist das Symbol für das Versagen der Appeasementpolitik. Heute wissen Diplomaten, dass Appeasement nur funktioniert, wenn Konfliktgründe und Meinungsverschiedenheiten methodisch aus dem Weg geschafft werden, um Spannungen zwischen Staaten zu beseitigen. Ein Mix aus Härte und Verhandlungsbereitschaft ist dabei unabdingbar.
SelbstbestimmungsrechtDie Idee, dass ein Volk über seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat entscheidet, wird erstmals in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) festgeschrieben. US-Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) bringt das Selbstbestimmungsrecht ins Spiel, als es darum geht, Europa nach dem Ersten Weltkrieg neu zu ordnen. Im Versailler Vertrag gestehen die Siegermächte einzelnen Bevölkerungsgruppen das Selbstbestimmungsrecht jedoch nur selektiv zu, was in der Folgezeit immer wieder zu Spannungen führt. Als während der Pariser Friedensverhandlungen über die Gründung der Tschechoslowakei gesprochen wird, gewährt man der deutschen Minderheit - mehr als drei Millionen Menschen - das Selbstbestimmungsrecht nicht. Im März 1919 gehen Deutsche, die den neuen Staat ablehnen, in mehreren böhmischen Städten auf die Straße und fordern die Zugehörigkeit zu Deutsch-Österreich. Die tschechische Armee schlägt die Demonstrationen mit Waffengewalt nieder.
SudetendeutscheZur Zeit der Ostsiedlung (12. bis 14. Jahrhundert) kommen auf Einladung von Landesfürsten und Bischöfen Zuwanderer aus Sachsen, Franken und Bayern ins Königreich Böhmen. Sie erhalten rechtliche Vergünstigungen, einigen ihrer Zentren gewährt man deutsche Stadtverfassungen nach Nürnberger oder Magdeburger Vorbild. Der Grund für diese Bevorzugung: In den dünn besiedelten böhmisch-mährischen Randgebieten (Böhmerwald, Erzgebirge, Sudetengebirge) werden dringend Siedler benötigt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Erst im 20. Jahrhundert werden diese Regionen als Sudentenland, ihre Bewohner als Sudetendeutsche bezeichnet.
Sudetendeutsche Heimatfront - Sudentendeutsche ParteiIm Oktober 1933 gründet der Bankbeamte Konrad Henlein (1898-1945) in Eger die national orientierte Sudentendeutsche Heimatfront. Zwei Jahre später wird der Name in Sudentendeutsche Partei (SDP) geändert. Hauptforderung der SDP ist eine innerstaatliche Autonomie der Deutschen in der Tschechoslowakei. Bei den Wahlen 1935 stimmen bereits mehr als 1,2 Millionen Deutsche für die SDP, die damit zwei Drittel der deutschen Mandate im tschechoslowakischen Parlament erhält. Ideologisch und finanziell (seit 1935 wird sie heimlich vom "Dritten Reich" unterstützt) gerät die SDP mehr und mehr in Anhängigkeit von der NSDAP, die sie als Instrument zur Sprengung der Tschechoslowakei betrachtet. Ab 1937 beginnt die SDP ihre Forderungen immer mehr zu steigern und bekennt sich offen zum Nationalsozialismus. Bei einem Geheimtreffen am 28. März 1938 einigen sich Hitler und Henlein auf ein gemeinsames Vorgehen zur Destabilisierung der Tschechoslowakei. Im April 1938 fordert Henlein den Aufbau einer Selbstverwaltung im deutschen Siedlungsgebiet, nur mehr deutsche öffentliche Angestellte im Sudetenland sowie volle Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und zur deutschen (gemeint ist nationalsozialistischen) Weltanschauung. Bei den Gemeindewahlen im Mai 1938 erhält die SDP 90 Prozent aller deutschen Stimmen. Konrad Henlein steigt nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei zum Gauleiter, Reichstagsabgeordneten, SS-Obergruppenführer und Reichsstatthalter des Sudetenlandes auf. 1945 begeht er in amerikanischer Gefangenschaft Selbstmord.
Zusammenleben Tschechen - DeutscheÜber Jahrhunderte gibt es zwischen Tschechen und Deutschen eine Art zweisprachiger Völkersymbiose. Erst als im Windschatten der Französischen Revolution ein Solidarverband namens "Nation" entsteht, werden die Bevölkerungsgruppen entzweit. Die Mobilisierungseffekte auf tschechischer Seite sind beträchtlich. Nationale Bestrebungen werden in den österreichischen Ländern, zu denen Böhmen seit 1437 gehört, von Staatskanzler Fürst Metternich (1773-1859) jedoch mit Härte unterdrückt. 1848 wird ein tschechischer Aufstand in Prag vom Militär niedergeschlagen. In der Folgezeit bemüht sich die Wiener Regierung jedoch um eine Verständigung mit den größten Nationen des Vielvölkerstaates: 1867 kommt es zum österreichisch-ungarischen Ausgleich, 1905 werden die Tschechen im mährischen Ausgleich als dritte dominierende Gruppe des Reichs anerkannt. Ungeachtet dessen desertieren während des Ersten Weltkriegs zehntausende Tschechen aus der K.u.K.-Armee, eine Tschechische Legion kämpft auf Seiten der Alliierten. 1916 wird ein tschechoslowakischer Nationalrat gegründet, der für einen selbständigen Staat eintritt. Im Zuge der Zerschlagung Österreich-Ungarns 1918/19 - unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker - entsteht die Tschechoslowakei als Nationalstaat. Die Tschechen, mit sieben Millionen Menschen stärkste Bevölkerungsgruppe, dominieren, mehr als drei Millionen Sudetendeutsche und 1,5 Millionen Ungarn warten vergeblich auf die versprochene Gleichberechtigung. Auch die zugesicherte "Verschweizerung" der Tschechoslowakei (Kantonisierung, Bildung einer Provinz Deutschböhmen) und die Anerkennung der Deutschen als "zweites Staatsvolk" kommen nicht zustande. Die tschechische Führung versäumt es, das Nationalitätenproblem zu lösen, ansonsten ist das Land eine funktionsfähige Demokratie. Wenngleich es im Laufe der Jahre auf Seiten der deutschen Minderheit Ansätze von Loyalität gegenüber dem tschechischen Staat gibt, bleibt der Traum von der "Heimkehr ins Reich" weit verbreitet.

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