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Die Kunst, ein Mensch zu werden

Humanismus in Bayern Die Kunst, ein Mensch zu werden

Stand: 23.09.2019

Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock  (1500)
| Bild: picture-alliance/dpa

Der Begriff Humanismus wurzelt im lateinischen Wortfeld homo/humanus/humanitas, das alles umfasst, was zum spezifisch Menschlichen gehört, den Menschen von der Tierwelt unterscheidet und seine Besonderheit begründet, vor allem Vernunft, Verstand, Sprache und moralisches Handeln. Diese exklusiven Fähigkeiten sind zugleich der Ausdruck seiner Gottesebenbildlichkeit.

Menschlichkeit als Bildungsziel

Während die Tiere von Geburt an mit unveränderlich prägenden Instinkten ausgerüstet sind, muss der Mensch seine Naturanlagen durch Erziehung und Selbsterziehung entwickeln. Dabei hilft ihm aus humanistischer Sicht ein Bildungsprogramm, das sich in seinen Grundzügen auf Cicero stützt und in Italien um die Mitte des 14. Jahrhunderts als studia humanitatis oder studia humaniora entsteht. Das Fundament des Strebens nach humanitas ist die Kultivierung der Sprache, der neben ihren kommunikativen Eigenschaften auch Erkenntniskraft eignet. Sie allein befähigt den Menschen zur Reflexion, zum Erforschen der weltlichen und göttlichen Geheimnisse, zum Wissenserwerb, zur Mitteilung und zur moralischen Lebensführung. Die Beherrschung vor allem der lateinischen Sprache auf höchstem rhetorischem und poetischem Niveau ist daher ein vorrangiges humanistisches Bildungsziel. Auf diesem Sockel fußen alle weiteren Wissenschaftsfelder, von hier aus werden sie erschlossen und vermittelt.

Sprache formt Denken und Handeln

Die beste Anleitung zur Ausbildung einer vorbildlichen humanitas bietet das Studium der antiken Klassiker, was ein möglichst perfekt beherrschtes Latein voraussetzt. Das im Spätmittelalter gebräuchliche Wissenschafts- und Umgangslatein bleibt hinter den hochgesteckten Ansprüchen der Humanisten zurück. Der Missstand ist mehr als ein kosmetisches Ärgernis. Die Humanisten sind überzeugt, dass nur ein richtiges und klares Sprechen auch ein richtiges und klares Denken hervorbringt. Wer fehlerhaft spricht und schreibt, so das humanistische Credo, denkt und begreift unweigerlich fehlerhaft. Wie also vermöchte jemand über seinen Verstand und seine Affekte zu herrschen, der nicht einmal die Grammatik beherrscht?

Übung macht den Meister

Abhilfe schafft nur das Bemühen um ein gereinigtes, an den Klassikern geschultes korrektes Latein. Als Ideal gilt dabei das von Vergil, Horaz, Ovid und vor allem von Cicero geschriebene Latein, das durch Klarheit, Eleganz, Präzision und stilistische Meisterschaft besticht. Auf diesen Gipfel führen mehrere Wege: Zum einen die intensive Lektüre der klassischen Autoren anhand möglichst unverfälschter Originaltexte. Zum andern die beständige Übung im Ausdruck, sei es durch das Verfassen eigener Schriften, Reden und Briefe oder das Verfolgen und Bestreiten gelehrter Dialoge. Den höchsten Grad erreicht die Ausbildung der Sprachfertigkeit in der Poesie. Erst sie verschmilzt die Redekunst (Rhetorik) mit unterschiedlichen Wissensinhalten, mit Philosophie, Ethik und tugendhaftem Verhalten. In dieser Zusammenführung wird sie zum Ausdruck des Göttlichen im Menschen und damit zur Vollendung wahrer Humanität.

Selbsterziehung durch Spracherziehung

Das Bemühen um korrektes Latein, um Rhetorik, Grammatik und Poesie ist daher also nicht Selbstzweck, sondern die Grundlage des humanistischen Ansatzes schlechthin: Sprache und Literatur vereinen Klugheit und Beredsamkeit; sie legen den Grund für alle anderen Wissenschaften; sie veredeln den Menschen, fördern die Entfaltung humaner Verhaltensweisen und dienen dadurch dem Gemeinwohl. Vom überragenden Nutzen des Ringens um ein möglichst makelloses Sprechen und Schreiben ist auch Philipp Melanchthon (1497 - 1560) derart überzeugt, dass er diesen Aspekt in die Mitte seiner Ideen zur Bildungsreform und Selbsterziehung stellt. Mit gutem Grund. Denn schließlich werde "durch die Beschäftigung mit diesen Lehrgebieten nicht nur die Sprache verfeinert, sondern auch die wilde Ungeschlachtheit der gesamten Veranlagung zurechtgebracht. Durch diese Verfeinerung können die meisten ihre wilde Art abstreifen und in ihrer Wesensart sanfter und ruhiger werden."

Humanismus als pädagogisches Projekt

"Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern zu Menschen gebildet!" In diesem Satz bündelt Erasmus von Rotterdam (1466 - 1536) ein humanistisches Kernanliegen und beleuchtet damit zugleich das humanistische Konzept der menschlichen Existenz: Der Mensch ist nicht nur bildungsfähig, er ist vor allem bildungsbedürftig, um ganz Mensch zu werden. Bildung meint dabei nicht bloßes Faktenhäufen. Bildung im humanistischen Sinn muss den ganzen Menschen durchdringen. Erst die umfassende, auf den Verstand, die Moral und die ganze Lebenspraxis abzielende Bildung befähigt den Menschen, seine wahre Bestimmung zu erkennen, seine Gaben optimal zu entfalten und ein ideales Menschsein, kurz die ideale humanitas zu verwirklichen.

Die Freiheit zwischen Gut und Böse zu wählen

Die Fähigkeit zur Selbstbildung ist zugleich Auftrag und Privileg des Menschen. In ihr besteht seine eigentliche Würde, die ihn von allen anderen Geschöpfen unterscheidet und seine Einzigartigkeit begründet. Der Mensch ist zwar auch von Affekten (Trieben) bedrängt, aber er ist ihrem Automatismus nicht ausgeliefert. Als einziges aller Geschöpfe ist er frei in seinem Handeln; er allein kann seine Triebe steuern, er allein kann sich frei zwischen Gut und Böse entscheiden. Der Wille, das Gute zu wählen, wird grundgelegt, geformt, gestärkt und geleitet durch den Verstand, durch Erziehung und Bildung. Das setzt die Einsicht in das richtige, das heißt moralische Handeln, den Ansporn durch geeignete Vorbilder und die Unterstützung durch exzellente Lehrer voraus. All das leistet die Antike: Sie ist Quelle des Wissens und Lehrer der Gegenwart.

Die Würde des Menschen

In seiner großen Rede "Über die Würde des Menschen" (Oratio de hominis dignitate) erläutert der Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463 - 1494), weshalb Menschenbild, Willensfreiheit, Bildungspostulat und Seelenheil im humanistischen Denken untrennbar miteinander verwoben sind. Der Text nimmt die Perspektive Gottes ein, der zu Adam spricht: "Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt (…) damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche."

Der universale Mensch als Bildungsziel

Der Inbegriff des humanistischen Bildungsideals ist der homo universalis (uomo universale), der in allen Wissenschaften, Künsten, Tugenden und Tätigkeiten gleichermaßen sattelfeste Universalmensch der Renaissance. Der humanistische Selbsterziehungsheld formt sich durch die Nachahmung klassischer Vorbilder wie ein Bildhauer selbst zum Kunstwerk und Ebenbild Gottes. Dürers aufregendes "Selbstbildnis im Pelzrock" illustriert wie kein anderes Gemälde der Zeit diesen ungeheuren Anspruch, den Menschen durch Kunst, Bildung und Tugend so zu veredeln, dass er sich der Bestimmung zur Gottesebenbildlichkeit würdig erweist.

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Zeitgenössische Handschrift des Humanisten Ulrich von Hutten aus der Hutten-Sammlung in Fulda | Bild: picture-alliance/dpa zum Thema Humanismus in Bayern Peutinger, Aventinus & Co.

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