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Wie die Märchen entstanden Das Thema

Stand: 15.01.2009 | Archiv

Prinzessin Myrose (Lotte Flack) in der Verfilmung des Märchens "Dornröschen" | Bild: picture-alliance/dpa

Die ersten Märchensammlungen wurden in Italien veröffentlicht. Schon im Jahr 1550 erschien in Venedig Straparolas Buch "Tredici piacevoli notti", 1637 das berühmte "Pentamerone" von Basile. Beide Bücher waren für Erwachsene gedacht. Die erste Märchensammlung für Kinder erschien 1697 in Paris: "Contes de ma Mère L´Oye" von Perrault. 1704 erschien die erste Übersetzung der arabischen Märchen aus 1001 Nacht, übersetzt von Galland, ebenfalls in Paris. Das 18. Jahrhundert wandte sich zunächst vom Volksmärchen ab. Die Aufklärung erklärte es zum "Aberglauben" und "Ammenmärchen".

Die Brüder Grimm

Erst zu Ende des 18. Jahrhunderts drehte sich der Wind. In Deutschland brachte Musäus die erste deutsche Märchensammlung heraus (Gotha 1782).

Die Brüder Grimm sind also keineswegs die ersten, die den Wert des Volksmärchens erkannten. Aber ihnen ist es gelungen, den unverwechselbaren Ton zu finden, der die Märchen sogleich nach ihrem Erscheinen (Erstauflage 1812) zu Klassikern machte. Sie hatten dabei zwei Anliegen: Zum einen die mündlich überlieferten Geschichten zu retten, "da diejenigen, die sie bewahren, immer seltener werden". Zum anderen fiel das Unternehmen in die Zeit, in der Napoleon Europa beherrschte und ein deutscher Nationalstaat nicht existierte. Die Brüder Grimm wollten mit ihrer Sammlung deutscher Volksmärchen einen Beitrag zur Festigung des nationalen Bewusstseins leisten. Die 86 Märchen der Erstausgabe waren als patriotisches Werk der "deutschen Volkspoesie" gedacht.

Unermüdliche Märchenerzählerinnen

Wie haben sich die Brüder Grimm die Texte beschafft? Ihr wissenschaftliches Prinzip war es, ausschließlich aus mündlicher Überlieferung zu schöpfen, also brauchten sie Zuträger und Märchenerzähler. Die Apothekertochter Gretchen Wild und das Dienstmädchen Marie Müller waren die ersten Erzählerinnen, Dortchen, die jüngere Schwester Gretchens, kam dazu (und wurde später Wilhelm Grimms Frau). Die Juristentöchter Jeanette, Marie und Amalie Hassenpflug lieferten ebenfalls Material. Zu den wenigen Männern gehörte der Dragonerwachtmeister Friedrich Krause.

Berühmt wurde Dorothea Viehmann, die "Viehmännin", ein Naturtalent, das die Märchen immer im selben Wortlaut und sehr gut erzählte. Idyllische Biedermeierbilder zeigen sie in ihrer bäuerlichen Stube, wo sie von den Brüdern Grimm besucht wird. Das ist aber nur Legende. In Wirklichkeit war sie ganz arm dran, mit einem Säufer verheiratet und gezwungen, ihre sechs Kinder allein durchzubringen. Sie trug Lebensmittel aus und kam auf diese Weise zu den Grimms ins Haus - nicht umgekehrt. Sie starb in großer Armut 1816.

Die Erstausgabe erschien 1812. Jacob Grimm war der puristische Wissenschaftler. Er wollte, dass die Märchen unverändert wiedergegeben werden. Wilhelm dagegen war empfänglich für Kritik und sorgte in der Zweitausgabe von 1819 dafür, dass obszöne Stellen getilgt waren. Jacob hatte sich inzwischen der Sprachwissenschaft zugewandt, so dass die Märchen die Domäne von Wilhelm blieben - bis hin zur Ausgabe letzter Hand von 1857. Mit seiner Bearbeitung hat er freilich nicht nur Zweideutigkeiten gelöscht, sondern auch einen einheitlichen Stil von hohem ästhetischen Wert geprägt.


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