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Der Mann im roten Rock Mit Julian Barnes ins Paris der Belle Époque

Seit Jahren ist der britische Romancier nicht nur ein Bestsellergarant, sondern auch Kunstkenner und Frankreich-Fan. Das beweist sein jüngstes Buch "Der Mann im roten Rock", eigentlich ein Sachbuch über Dr. Samuel Pozzi (1846-1918), ein Pariser Modearzt und Salonlöwe der Belle Époque, dessen schillerndes Leben Barnes mit offensichtlichem Vergnügen recherchiert hat und nonchalant zu erzählen weiß. Lesung in zwei Folgen mit Frank Arnold

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 01.03.2021 | Archiv

Schriftsteller Julian Barnes | Bild: picture-alliance/dpa

London, 2015: In der National Portrait Gallery bestaunt Julian Barnes das gewaltige Gemälde "Dr. Pozzi at Home" (1881) von John Singer Sargent, dem renommiertesten Porträtmaler der Jahrhundertwende. Ein Dr. Pozzi war dem Schriftsteller bislang nicht geläufig, das Schild an der Galeriewand bekundete, dass Pozzi Gynäkologe gewesen war. Der leidenschaftliche Kunstliebhaber Barnes las also in einer Zeitschrift nach: Pozzi sei nicht nur der Vater der französischen Gynäkologie gewesen, sondern auch notorisch sexsüchtig. Solch reizvolle Mixtur aus gegenwärtigen Urteilen sowie einer offenbar sehr widersprüchlichen Figur des öffentlichen Lebens aus dem dekadenten Paris des Fin de siècle gaben den Anstoß für eine tiefgründige Recherche rund um den "Mann im roten Rock".

Zwei Frauen blicken auf das Gemälde von John Singer Sargent: "Dr. Pozzi at Home", während einer Ausstellung im Rijksmuseum in Amsterdam, 2018

"Rechte Hand an der Brust, linke Hand an der Hüfte. Vielleicht steckt aber noch mehr dahinter: rechte Hand auf dem Herzen, linke Hand an den Lenden. (...) Das Auge folgt den Kordeln bis zu einem komplizierten Knoten, an dem ein Paar fedrige, pelzige Quasten baumelt, eine über der anderen. Sie hängen eben unterhalb der Lenden, wie ein scharlachroter Stierpenis. Hat der Maler das so gewollt? (...) Die Pose ist edel, heroisch, aber die Hände lassen sie subtiler und komplizierter erscheinen. Nicht die Hände eines Konzertpianisten, wie sich herausstellt, sondern die eines Arztes, eines Chirurgen, eines Gynäkologen. Und der scharlachrote Stierpenis? Alles zu seiner Zeit."

( Der Mann im roten Rock, Julian Barnes)

Reise durch das dekadente Paris

Henri Toulouse-Lautrec stellt den Tanz im Moulin Rouge dar.

Sein literarisches Porträt beschränkt sich nicht nur auf "Docteur Dieu", wie der intellektuelle Wissenschaftler Dr. Samuel Pozzi (1846-1918) von seiner namhaften Patientin (und Geliebten) Sarah Bernhardt betitelt wurde. Julian Barnes Buch kreist gewandt und gewitzt um Motive dieser Epoche des Wohlstands - von literarischen Diskursen über Dispute zwischen Moral und Medizin bis zum Antisemitismus. Um dann wieder zu Pozzi zurückzukehren. Und ja, der charismatische Arzt hatte zahlreiche Affairen, war ein Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie und Freigeist, ein intellektueller Wissenschaftler, der seiner Zeit weit voraus war, der Hygienevorschriften vor Operationen in Frankreich einführte, der Darwin ins Französische übersetzte, der dem Provinzbürgertum entstammte und dennoch "beinahe" als Dandy gewürdigt wurde.

"Pozzis Aufstieg vom Jungen aus Bergerac in die Pariser High Society war ein Triumph von Intellekt, Charakter, Ehrgeiz, Professionalität und, ja, einem verführerischen Charme, der auf Männer und Frauen gleichermaßen wirkte...Pozzis Ruhm war nicht auf einen kleinen Kreis dankbarer Bewunderinnen begrenzt. Wer in den ersten zwei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in einem Laden von Felix Potin eine Tafel Schokolade kaufte, konnte mit viel Glück eine kleine Fotografie von Dr. Pozzi darin finden."

(Der Mann im roten Rock, Julian Barnes)

"Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz."

Mit diesem Satz überrascht Samuel Pozzi in der Einleitung zu seinem Lehrbuch der Gynäkologie (1890).

Schriftsteller Julian Barnes mit "Flaubert's Parrot", dem Roman, mit dem seine Karriere begann und der 1984 für den Booker Prize nominiert war.

Im Nachwort von "Der Mann im roten Rock" schreibt Julian Barnes, dass er sein Sachbuch im letzten Jahr vor Großbritanniens "verblendetem, masochistischem Austritt aus der Europäischen Union geschrieben" habe und dass ihm da Dr. Pozzis Maxime oft in den Sinn gekommen sei. Durch dessen Grenzen sprengende Biografie und Vitalität jenseits chauvinistischer Tendenzen sei Pozzi für ihn "so etwas wie ein Held".

Julian Barnes, geboren 1946 in Leicester geboren, ist Romanautor und lebt in London. Nach seinem Studium moderner Sprachen arbeitete er zunächst als Lexikograph, dann als Journalist. Unter dem Pseudonym Dan Kavanagh hat er auch erfolgreiche Krimis geschrieben. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Der Simenon-Liebhaber erbte von seinen Eltern - beide Französischlehrer - die Frankophilie, die auch sein jüngstes Buch prägt.

"Der Mann im roten Rock"

von Julian Barnes

Lesung mit Frank Arnold in zwei Teilen, dienstags, 9. und 16. März 2021 immer um kurz nach 21.00 Uhr in den radioTexten auf Bayern2

Das Hörbuch ist im Argon Verlag erschienen, die Buchausgabe, übersetzt von Gertraude Krueger, bei Kiepenheuer&Witsch.

Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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