BR Recherche

9

Gemeinsame Recherche von BR / ProPublica / Handelsblatt / Washington Post Commerzbank bringt Staat um Steuereinnahmen in zweistelliger Millionenhöhe

München/Düsseldorf/New York/Washington - Die Commerzbank hat den deutschen Staat über Jahre hinweg durch fragwürdige Aktiengeschäfte um Steuereinnahmen in zweistelliger Millionenhöhe gebracht. Das geht aus Dokumenten hervor, die dem Bayerischen Rundfunk und dem New Yorker Recherchebüro ProPublica exklusiv vorliegen, und die sie gemeinsam mit dem Handelsblatt und der Washington Post analysiert haben. Demnach ermöglichte es die Commerzbank bis 2015 ausländischen Anlegern, die Kapitalertragsteuer in Deutschland zu vermeiden - und verdiente selbst mit daran.

Stand: 02.05.2016

Das Schild einer Commerzbank-Filiale in Frankfurt am Main vor der Zentrale der Commerzbank | Bild: picture-alliance/dpa Frank Rumpenhorst

Bei den so genannten Cum/Cum-Deals handelt es sich häufig um Wertpapierleihgeschäfte. Dabei werden Aktien deutscher Unternehmen, die Eigentum ausländischer Anleger sind, kurz vor dem Dividendenstichtag an Steuerinländer übertragen, zum Beispiel an deutsche Banken. Diese Steuerinländer können sich - anders als die ausländischen Anleger - die Kapitalertragsteuer auf die anfallenden Dividenden erstatten beziehungsweise anrechnen lassen. Nach dem Dividendentermin werden die Aktien an die ursprünglichen Besitzer im Ausland zurück übertragen. Kursrisiken werden abgesichert, die gesparte Steuer teilen sich die Beteiligten auf. Der Staat geht leer aus.

Vertreter von Banken bezeichnen Cum/Cum-Geschäfte als legal. Experten aber bezweifeln, dass solche Geschäfte grundsätzlich zulässig sind. "Wenn keine anderen wirtschaftlichen Gründe außer Steuervermeidung vorliegen, dann sind wir dem Wortlaut nach im Missbrauch von Steuergestaltung nach Paragraf 42 der Abgabenordnung. Das ist der eindeutige Gesetzeswortlaut.", sagte Prof. Christoph Spengel, Steuerexperte an der Universität Mannheim, dem Bayerischen Rundfunk. Jüngste Urteile deutscher Finanzgerichte nähren auch aufgrund anderer gesetzlicher Bestimmungen Zweifel an der Zulässigkeit solcher Cum/Cum-Geschäfte.

Allein aus den Dokumenten, die der Bayerische Rundfunk mit seinen Kooperationspartnern ProPublica, Handelsblatt und Washington Post analysiert hat, gehen Transaktionen unter Beteiligung der Commerzbank hervor, durch die dem deutschen Staat jährlich zweistellige Millionenbeträge entgangen sind. Die Summe könnte jedoch noch höher sein, wie eine Auswertung des deutschen Unternehmensregisters durch den Bayerischen Rundfunk ergab.

Demnach meldete die Commerzbank zwischen 2013 und 2015 rund 250 Mal Überschreitungen und Unterschreitungen von Stimmrechtsanteilsschwellen bei deutschen Aktiengesellschaften, darunter Adidas, Siemens oder die Deutsche Bank. Rund 80 Prozent der Fälle ereigneten sich im Zusammenhang mit der Auszahlung der Dividende. Experten bestätigten dem Bayerischen Rundfunk, dass dies ein Indiz für Aktiendeals in Milliardenhöhe und Cum/Cum-Geschäfte sei.

Die Commerzbank reagiert auf die Vorwürfe kurz und grundsätzlich. Eine umfangreiche inhaltliche Anfrage des Bayerischen Rundfunks beantwortet die Bank mit dem Hinweis darauf, dass sie bei täglich über 100.000 Handelsgeschäften "zwangsläufig" in so genannten Cum/Cum-Situationen agiere. Und weiter: "Wir stellen durch umfangreiche interne Systeme und Kontrollen sicher, dass alle Handelsgeschäfte im Einklang mit dem geltenden Recht stehen."

Die Bank war in der Finanzkrise in Schwierigkeiten geraten und wurde im Januar 2009 teilverstaatlicht. Die Bundesrepublik ist mit einem Anteil von 15 Prozent nach wie vor größter Aktionär und hat zwei Vertreter im Aufsichtsrat. Gerhard Schick, finanzpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, findet die Rolle der Commerzbank daher besonders fragwürdig. "Natürlich stellt sich bei der Commerzbank - weil der Staat beteiligt ist - die Frage, ob der Mehrheitsaktionär, die Bundesrepublik Deutschland, es okay finden kann, dass solche Geschäfte gemacht werden. Ich finde, eine Bank, die vom Steuerzahler gerettet worden ist, und an der der Staat immer noch mit einem großen Anteil beteiligt ist, muss andere Maßstäbe anlegen und darf auf keinen Fall zu Lasten des Steuerzahlers solche Geschäfte machen."

Aus dem Bundesfinanzministerium heißt es dazu: "Wir erwarten, dass sich die Commerzbank AG an alle geltenden rechtlichen Vorgaben hält."  Und auf die Frage, wie hoch der finanzielle Schaden durch Cum/Cum-Geschäfte für den deutschen Fiskus sei, antwortet der Sprecher von Finanzminister Schäuble in einer schriftlichen Stellungnahme: "Zur Höhe der möglicherweise durch Cum/Cum-Gestaltungen entstandenen Steuerausfälle liegen dem Bundesministerium der Finanzen keine hinreichenden Erkenntnisse vor, die eine verlässliche Schätzung ermöglichen würden."

Die Commerzbank ist nicht die einzige Bank in Deutschland, die sich an diesen Geschäften beteiligt hat. Insgesamt, so schätzt das New Yorker Recherchebüro ProPublica auf Basis von Finanzmarktbewegungen, sind dem deutschen Fiskus seit 2011 rund fünf Milliarden Euro durch Cum/Cum-Deals entgangen. Mit dem geplanten Investmentsteuerreformgesetz will die Bundesregierung diese Geschäfte rückwirkend zum 1.1.2016 unterbinden. Ob bereits verlorene Steuermilliarden zurückgeholt werden, dazu äußert sich das Bundesfinanzministerium nicht. Nach Meinung von Steuerexperten bietet bereits die jetzige rechtliche Situation eine gute Grundlage, um Steuergeld zurückzufordern.

Diese Recherche ist eine Kooperation des Bayerischen Rundfunks (BR Recherche und dem ARD Politmagazin "report München") mit dem New Yorker Recherchebüro ProPublica, dem Handelsblatt und der Washington Post.

Der BR berichtet über dieses Thema unter anderem in folgenden Sendungen:

Im Ersten:

In der "Tagesschau" am Montag, 2. Mai 2016, 20.00 Uhr sowie
in den "Tagesthemen" um 22.15 Uhr
In "report München" am Dienstag, 3. Mai 2016. 21.45 Uhr

BR-Hörfunk:
in B5aktuell, in der "radioWelt" auf Bayern 2.

BR-Fernsehen:
in den Ausgaben der "Rundschau".

Online:
in der App BR24 sowie auf der Seite BR24.de

Die Inhalte der Pressemitteilung sind frei zur Verwendung bei Quellenangabe "Nach Recherchen von Bayerischem Rundfunk / Handelsblatt / Washington Post / ProPublica".

BR Recherche – investigativ und exklusiv: Die neue trimediale Einheit gibt es seit 1. Februar 2016. BR Recherche arbeitet nicht für eine bestimmte Sendung, sondern veröffentlicht die Inhalte in allen passenden Programmen: im Hörfunk, im Fernsehen und Online - im BR und in der ARD. 
www.br.de/recherche
@BR_Recherche


9