Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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14. Oktober 1989 Der Zeithistoriker Martin Broszat gestorben

War es denkbar, dass Hitler gar keinen Befehl von oben gegeben hatte, mit dem Massenmord an den europäischen Juden zu beginnen? Martin Broszat hatte beschrieben, wie die Shoa als Notlösung in einer Sackgasse entstanden sei. Autor: Thomas Morawetz

Stand: 14.10.2015 | Archiv

14 Oktober

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Autor(in): Thomas Morawetz

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Es war das Jahr 2003, und eine alte, einmal himmelblaue Karteikarte war aufgetaucht. Aus der ging hervor, dass im Jahr 1944 ein Sammelantrag auf Mitgliedschaft in die NSDAP gestellt worden war, der auch einen gewissen Martin Broszat aus Leipzig erfasste. Der war damals 17, 18 Jahre alt. Jetzt hieß es für Zeithistoriker viel Aktenstaub fressen und scharf kombinieren. War es irgendwie möglich, dass Martin Broszat damals von der ganzen Sache gar nichts mitbekommen hatte?

Hätte, könnte, wäre! Solche Konjunktive um einen Siebzehnjährigen sind empfindlich, wenn es um einen Mann wie Martin Broszat geht. Denn Broszat wurde nach dem Krieg international einer der renommierten Erforscher des NS-Staates. Hatte Broszat nun von seiner NSDAP-Mitgliedschaft tatsächlich nichts gewusst? Wer weiß.

Denn Martin Broszat war schon am 14. Oktober 1989 gestorben. Vom Auftauchen der himmelblauen Karteikarte hat er nichts mehr erfahren.

Broszat wurde 1926 in Leipzig geboren, als Sohn eines frommen evangelischen Postinspektors. Später sprach er selbst davon, wie sehr ihn das Hitler-Regime fasziniert hatte, obwohl das so gar nicht zu seiner Erziehung im Elternhaus passen wollte. Eine Jugend wie die vieler anderer, doch nach dem Krieg ging für ihn die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus erst richtig los. 1955 kam er mit knapp 30 Jahren nach München an das noch relative junge Institut für Zeitgeschichte. Das Fragen nach den Ursachen für die Schuld am Dritten Reich sollte gerade erst beginnen.

Die erste Antwort, die bald gefunden wurde, schien einleuchtend: Hitler war schuld, denn schließlich war ja alles seine Idee. Stand doch alles in "Mein Kampf". Martin Broszats Lebenswerk sollte es werden, gegen diese Deutung anzuforschen. In seinem Hauptwerk "Der Staat Hitlers" beschrieb er 1969, wie wenig Hitler selbst der große Herrscher im Führerstaat war.

Vielmehr sei sein Regime ein unüberschaubares Dickicht an rivalisierenden Personen und Institutionen gewesen, zerrissen in Machtkämpfen zwischen staatlicher Bürokratie und Partei. Kurz: Es herrschte Chaos, in dem sich nur die Stärksten, auf Dauer also die Radikalsten, durchsetzen.

Später hat Broszat diese Erkenntnis auf die Entstehung des Holocaust übertragen. Zwar habe Hitler habe das Ziel der Vernichtung der europäischen Juden dem Staat auferlegt, aber ohne zu sagen, wie er sich das vorstellte. Nachdem 1941 die Pläne gescheitert waren, die Juden nach Madagaskar abzuschieben, sei der nächste Plan gewesen, sie in den Weiten der zu erobernden Sowjetunion verschwinden zu lassen. Massenhafte Deportationen Richtung Osten begannen. Doch dann kam der Stillstand an der Ostfront, und die Judenghettos in Polen wuchsen sich zum nackten Chaos aus. In dieser Situation, so Broszat, hatten Funktionsträger vor Ort mit improvisierten Tötungen begonnen. Das war der Anfang. Hitler habe den Lösungsansatz Massenmord wohl gebilligt - im Nachhinein, aber die Shoa habe ihren Ursprung zunächst nicht in einem Führerbefehl von oben gehabt.

Durfte man die Hauptschuld am Judenmord vom Dämon Hitler einfach nach unten, ins Anonyme zahlloser Funktionsträger durchreichen?

Dann also 2003 die himmelblaue Karteikarte. Hatte der 17-jährige Broszat von seinem Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP gewusst?

Wieder gilt - wer weiß? Schuld ist auf der Wage der Wissenschaft nicht nur ein schweres, sondern auch ein schwieriges Gewicht.


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