Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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2. Januar 1901 Freuds "Psychopathologie des Alltags" erscheint

Nichts vergisst der Mensch ohne unbewusste Absicht, nie verspricht er sich ohne tieferen Grund. Das wissen zumindest Freudianer, seitdem am 2. Januar 1901 Sigmund Freud seine "Psychopathologie des Alltags" veröffentlicht hat.

Stand: 02.01.2012 | Archiv

02 Januar

Montag, 02. Januar 2012

Autor(in): Christiane Neukirch

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Redaktion: Thomas Morawetz

Nehmen wir einmal Folgendes an: Dieses Kalenderblatt hätte um ein Haar nicht gesendet werden können. Die Autorin hat das Schreiben wochenlang auf später verschoben, dann versäumt, das zugrunde liegende Buch in der Bücherei abzuholen und schließlich vergessen, das Manuskript an die Redaktion zu schicken.

Die offizielle Entschuldigung lautet wie folgt: „Die Unterlagen sind auf dem Schreibtisch zwischen andere Papiere geraten und aus Versehen im Papierkorb gelandet.“ Die Autorin war dick im Stress. Wird nicht wieder vorkommen.

Das Unbewusste gibt Bescheid

Bis vor hundert Jahren konnte man sich so selbst in die Tasche lügen. Seit dem 2. Januar 1901 ist das anders. An jenem Tag erschien Sigmund Freuds Buch „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“. Das Werk, das Licht ins Dunkel solcher Pannen bringen sollte. Es beleuchtet alle Fehlhandlungen, die wir in unserem Alltagsleben vollbringen. Diese verraten laut Freud mehr über uns als unser beabsichtigtes Tun. Grundsätzlich kann man es so zusammenfassen: Alle Wörter, die mit der Vorsilbe „ver-“ beginnen, lassen auf eine Fehlhandlung schließen: das Vergessen von Eigennamen, fremdsprachigen Worten, Wortfolgen, Eindrücken und Vorsätzen; das Versprechen, Verlesen, Verschreiben und Vergreifen; ferner Zufallshandlungen, Irrtümer, kombinierte Fehlleistungen, Aberglauben. Das sind die Kapitel, in die Freud unsere Missgriffe unterteilt.

Alle haben eines gemeinsam: sie sind Ausdruck unseres Unterbewusstseins. Und das will etwas anderes als was wir nach außen hin sagen oder tun - getrieben von einer Fehleinschätzung unseres Willens oder dem Zwang der Etikette. Angesichts dieser Vielfalt muss einem schwindlig werden, so viele Patzer unterlaufen uns auf Schritt und Tritt.

Alle Pannen mit Motiv

Ein Trost: Freud nimmt sich selbst dabei nicht aus, sondern oft als Beispiel. So berichtet er von folgendem Vorfall: „Ich lege Wert auf schönes Löschpapier und nehme mir vor, auf meinem heutigen Nachmittagsweg in die Stadt neues einzukaufen. Aber an vier aufeinander folgenden Tagen vergesse ich es, bis ich mich befrage, welchen Grund diese Unterlassung hat. Ich finde ihn dann leicht, nachdem ich mich besonnen habe, dass ich zwar „Löschpapier“ zu schreiben, aber „Fließpapier“ zu sagen gewohnt bin. „Fließ“ ist der Name eines Freundes in Berlin, der mir in den nämlichen Tagen Anlass zu einem quälenden Gedanken gegeben hatte. Diesen Gedanken kann ich nicht loswerden, aber die Abwehrneigung äußert sich, indem sie sich mittels der Wortgleichheit auf den indifferenten und darum wenig resistenten Vorsatz überträgt.“

Eine erhellende wie unterhaltsam formulierte Lektüre; und doch fragt man sich erschrocken: „Habe ich wirklich so kompliziert gedacht, als ich neulich eine Bekannte meine Tante nannte?“ Kompliziert oder nicht, man muss nur genug suchen: Freud findet stets ein Motiv.

Schlimm trifft diese Enthüllung unsere Autorin, denn Freud sagt: „In allen Fällen erwies sich das Vergessen als begründet durch ein Unlustmotiv.“ Sie wollte das Kalenderblatt also nicht schreiben. Und warum nicht? Will sie sich etwa nicht eingestehen, dass sie eifersüchtig ist auf den Kollegen, der soeben ein Angebot aus Hollywood bekommen hat und statt von Kalenderblättern in Zukunft von Gagen in Millionenhöhe lebt? Der bald eine Villa, eine Yacht und einen Geldspeicher seine Eigen nennt, obwohl er keinen Deut talentierter ist? Freilich hat sie trotz Entschuldigung mit einer Rüge zu rechnen. Doch, so schreibt Freud: „Diese Strafe ist geringfügig zu nennen im Vergleich zu jener, der [sie] sich aussetzte, wenn [sie] das Motiv [ihrer] Unterlassung sich und [ihren] Vorgesetzten eingestehen würde, sprich: ,Der elende Gamaschendienst ist mir ganz zuwider’.“


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