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Kriegsende 1945 | Der Alltag (1) Von Fettkarten und Rübenmus

Schon vor dem 8. Mai ist alles anders. Das öffentliche Leben sackt stückweise zusammen wie ein mürbe gebombtes Haus. Zwanghafte Normalität verwandelt sich in eine Mischung aus Apathie und Anarchie, und auch auf Lebensmittelkarten gibt es nur noch Hunger.

Von: Michael Kubitza

Stand: 09.04.2015 | Archiv

1945: Kriegsende in Bayern | Bild: picture-alliance/dpa

Wer kämpfen will, muss fröhlich sein: Nach dieser Maxime hatte das NS-Regime seiner eher kriegsskeptischen Bevölkerung vieles erspart, was in den angegriffenen Ländern unvermeidlich war - und legte anfangs lieber noch was drauf: Bis heute übliche Sozialleistungen wie Kilometergeld und Ehegatten-Splitting wurden aus der Taufe gehoben, um den Einstieg in die Kriegswirtschaft zu erleichtern, "Wehrsteuern" bis zum Schluss kaum erhoben. In drei, vier, fünf Jahren, hofften viele, könnte der Krieg gewonnen, der Bau eines staatlich geförderten Eigenheims begonnen und ein Volkswagen in der Garage sein.

"Frauen schaffen für den Sieg"

Drei, vier, fünf Jahre nach Kriegsbeginn war das Ende in weite Ferne gerückt - und das war die gute Nachricht. Die Gesellschaft der Daheimgebliebenen bestand aus einigen "uk" gestellten Funktionären und Beamten, vielen Senioren und - den Frauen. Die Abwesenheit ihrer Männer wirkte sich nicht mehr nur auf ihr Seelenleben aus. Die reguläre Wochenarbeitszeit, die Ende der 30er-Jahre bei 46 Stunden gelegen hatte, stieg auf 60 Stunden. Die Jüngeren mussten aus der Verwaltung in die Kriegsproduktion wechseln, die Alten nachrücken - und das trotz einer historisch beispiellosen Zahl von Zwangsarbeitern.

Kriegsmotor Zwangsarbeit

Werkstein-Produktion im KZ Flossenbürg

Über 400.000 KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und "Fremdarbeiter" schufteten im Krieg in Bayern. An der Produktion im BMW-Werk München-Allach standen zu knapp zwei Dritteln so genannte "Ostarbeiter" und Gefangene der besetzten Länder in der Produktion. Auch in der Landwirtschaft bildete sich mancherorts eine vielsprachige "Produktionsgemeinschaft" heraus. Seltsam genug: Kaum zuvor und selten danach gab es in den ländlichen Regionen Bayerns eine so "multikulturelle" Gesellschaft wie in der Spätphase von Rassewahn und Nährstandsideologie.

Erstarren in Trümmern

In den letzten Monaten des Krieges verlief kein Tag mehr so, wie er noch 1940 gewesen war. Die immer häufigeren Bombenangriffe zerrütteten die Nerven und vernichteten mehr Wohnraum, als die Neuvergabe von "Judenwohnungen" kompensieren konnte. Auch das öffentliche Lebens sackte wie ein mürbe gebombtes Haus in sich zusammen.

Mühldorf 1945

Die meisten Bildungs-, Sport- und Spaßeinrichtungen waren geschlossen, die Geschäfte nur sporadisch geöffnet. Landwirtshäuser, die eben noch als Klassenzimmer für "Kinderlandkinder" gedient hatten, wurden jetzt zu Lazaretten - wenn es sie noch gab.

Der zerstörte "Alte Hof in München"

Das rührselige Nationaltheater der Weihnachtsringsendungen von allen Fronten fiel 1944 ebenso aus wie der Fasching 1945 und der "Führergeburtstag" am 20. April. Das gesellschaftliche Leben reduzierte sich auf Totengedenken für Gefallene und improvisierte Beerdigungen für die Luftkriegstoten daheim. Glocken waren nur noch selten zu hören: In den immer längeren Alarmphasen war das Läuten verboten, viele Glocken ohnehin in der Rüstungsproduktion eingeschmolzen. Das Leben verfiel in einen wirren Rhythmus aus passivem Ausharren und panischer Hast, Katastrophengetöse und lastendem Schweigen.

"Man gewinnt den Eindruck, dass die Bevölkerung sehr gleichgültig und fast ohne jeden Selbstbehauptungswillen dahinlebt und nur ein baldiges Kriegsende herbeisehnt."

'Lagebericht' der Gendarmerie-Station Schönau bei Berchtesgaden vom 24. Januar 1945

Vorhut der Besatzer: Kälte und Hunger

Im letzten Kriegswinter kamen zwei zuvor wenig beobachtete Phänomene nach Bayern: Die Kälte und der Hunger. Zwar war das "Bezugskartensystem" für Lebensmittel, Kleidung, Heizmaterial und die Dinge des täglichen Bedarf schon lange eingeführt, doch hatte es lange nur abgelaufene Sohlen und nicht eng geschnallte Gürtel zur Folge.

Mit vollem Ranzen zurück in die Stadt: "Hamsterfahrer" 1944.

Schon 1942/43 hatte der Sicherheitsdienst der SS aus Aschaffenburg und Nürnberg eine explosive Atmosphäre auf den Ämtern und vor den Geschäften gemeldet. Vielerorts bildeten sich Schwarzmärkte, an denen sich - wie etwa im oberpfälzischen Beilngries - auch die NS-Nomenklatura ungeniert beteiligte. "Hamsterfahrten" aufs Land wurden zum Volkssport. Bitterer Spott über mit Perserteppichen ausgelegten Kuhställen machte die Runde.

Wärme aus Trümmern: kleine Brennholz-Sammlerin in München 1945

1945 wurde aus Mangel echte Not. Auf den Tisch kamen jetzt Sauerampfer und Eichelmehlbrühe. Das Brot wurde mit Sägespänen gestreckt und doppelt lang gekaut. Als Heizmaterial dienten Bäume aus dem Park, Bücher oder - wie in Bamberg - das Parkett aus dem Stadttheater. Auch gefahren wurde immer öfter mit selbst gebrannter Holzkohle. Mit einem Meter Trümmerholz, tönte die Propaganda, könne man "im Kraftwagen 750 Kilometer fahren".

Dampfnudelhunger und Erdäpfelblues

Lange war der Hunger in Bayern ein gefühlter. Wer im Gäuboden oder dem Chiemgau zuhause war, kannte den Kohldampf der Berliner oder Duisburger nur aus den Erzählungen der "Kinderlandkinder". Selbst im Ballungsraum Nürnberg-Fürth-Erlangen war die Versorgungslage nicht schlecht: Vorausgesetzt, man hatte Verwandte im "Knoblauchsland" oder besaß Tauschwaren für "Hamsterfahrten" in den Bayerischen Wald.

Doch weil die Bayern traditionell viele Mehlspeisen und Teigwaren verzehrten, fiel das Fehlen von Butter, Mehl, Zucker oder Eiern besonders auf. Dampfnudeln und Kaiserschmarrn kamen oft nur noch in abenteuerlichen Kriegsvariationen auf den Tisch. An klassische "Hungergerichte" wie Kartoffelspeisen und improvisierte Eintöpfe, die im Norden Deutschlands seit jeher den Speiseplan bestimmten, mussten sich die Bayern erst gewöhnen. Die Kartoffel hatte sich nach den Kriegsjahren etabliert - Löwenzahnsalat und Bärlauch brauchten ein halbes Jahrhundert länger, wieder zu Tisch gebeten zu werden.

Mahlzeit! Kochbücher im Nationalsozialismus

  • "Hauptgerichte einmal ohne Fleisch"
  • "Backen macht Freude - auch mit wenig Fett und Eiern!"
  • "Die Jungborn-Ernährung für Gesunde und Kranke im Kriege"
  • Vom ausgelassenen Apfelschmalz, vom großen Hans, dem blauen Heinrich und andern guten Sachen zu Frühkost, Brotaufstrich und Abendessen"
  • "Graupen - ein Kochproblem mit vielen dankbaren Lösungen"

Mai 1945: eine Hölle - verkleidet als Schlaraffenland

Die letzte Ernährungsrichtlinie der "Gauämter für Volksgesundheit" vom 5. April 1945 empfiehlt den Verzehr von Fröschen und Schnecken. Einen Monat später haben die Gauämter nichts mehr zu sagen. Die alten Machthaber sind untergetaucht, die neuen noch nicht recht angekommen; es herrscht die Anarchie. In München werden Bäckereien, Bierkeller und Schnapsfabriken auf den Kopf gestellt, Handkarren vollgeladen, ganze Käselaibe durch die Straßen gerollt.

Auch in anderen Teilen Bayerns beteiligen sich trotz standrechtlicher Erschießungen Menschen aus allen Bevölkerungsschichten an Plünderungen. Wer Geld auf dem Konto hat, findet selten eine offene Bank; wer Geld in der Tasche hat, findet nichts Essbares in den Geschäften. Selbst der Schwarzmarkt hat in diesen Wochen nur selten geöffnet. Mehr als einmal muss die Army ihre Hunde davor bewahren, in deutschen Kochtöpfen zu verschwinden.

Das Hakenkreuz geht baden

Proklamation 1: Was sie mitzuteilen hat, teilt die US-Administration auf Anschlägen und Wurfzetteln mit.

Die Hoffnung liegt auf den Besatzern. Auch wer sie damals nicht als Befreier empfindet, ist auf die tägliche Zuteilung von einer Scheibe Brot plus 210 Gramm Fett im Monat angewiesen. Und der "Reading Room" im 1946 neu eröffneten Würzburger Amerikahaus ist auch deshalb überfüllt, weil er der einzige heizbare öffentliche Raum der Stadt ist.

Die Fahnen hoch! Jetzt sind es weiße Taschentücher, die den Einmarsch der Amerikaner begleiten.

Das dürre Ende kommt noch. Gut, dass die wenigsten in diesem Mai an die kommenden eisigen Hungerwinter denken. Fürs Erste lösen sich Heiz- und Kleidungsprobleme im gnädig warmen Wetter auf. Ein Zeitzeuge aus Landshut erinnert sich, schon im Frühsommer 1945 Schwimmen gewesen zu sein. Eine Tante hat ihm eine rotweiße Badehose genäht, der man nicht mehr ansieht, dass sie mal eine Hakenkreuzfahne war.


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