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Irina Wanka liest Marieluise Fleißer: Die im Dunkeln

„Ich kann nicht sterben, ich muss schreiben“ – eine Novelle aus der Anstalt. Zum 50. Todestag der Ingolstädter Ikone liest Irina Wanka über Kontrollverlust und Schreiblust. Moderation: Kirsten Böttcher.

Stand: 30.01.2024 | Archiv

"Wollen Sie sterben? fragte er mich.
 Ich kann nicht sterben, behauptete ich, ich muss schreiben.
Ich hatte mich da gar nicht besonnen.
Möglichkeit und Unmöglichkeit liegen bei Ihnen sehr nahe beisammen, gab er mir zu."

(aus: Die im Dunkeln)

„Die im Dunkeln“ (1965) ist eine Erzählung, in der die „Fleißerin“ einen Nervenzusammenbruch im Jahr 1938 verarbeitet, der in die Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt für Gemütskranke in München-Neufriedenheim mündete. Die Ich-Erzählerin der Novelle wird in eine geschlossene Anstalt eingewiesen, die voller Opfer der „braunen Zeit“ ist. Ein widersprüchlicher, bedrohlicher Zufluchtsort - mit einem Chefarzt immerhin, der das Lebensdrama der Erzählerin verständnisvoll erkennt: schreiben zu wollen und überall auf Unverständnis und Verweigerung zu stoßen, vor allem bei ihrem Mann.

„Es hat immer in mir um Hilfe geschrien“, heißt es im Text der 1901 geborenen Ingolstädter Autorin, die, nach dem Skandal um ihr Theaterstück „Pioniere in Ingolstadt“ 1929 über Nacht eine bekannte Dramatikerin der Weimarer Republik geworden war. Ja, in Berlin, im Umfeld Bert Brechts war sie berühmt, ihr Talent unumstritten, doch aus Ingolstadt wurde sie überrollt von dem, was wir heute Shitstorm nennen: Ihr wurde brieflich gedroht, ihr Werk galt - ohne es gesehen zu haben - als „Schandstück“. Dennoch kehrte Marieluise Fleißer zurück nach Ingolstadt, von der Bohème ins Hausfrauenleben, wechselte auch wieder von Bühnentexten zurück zur Prosa. 1931 erschien ihr einziger Roman „Die Mehlreisende Frieda Geier“.

1935 heiratete sie den Tabakhändler Josef Haindl, führte den Haushalt und arbeitete in dessen Tabakladen, so dass ihr fast keine Zeit zum Schreiben blieb. Drei Jahre später folgte der Nervenzusammenbruch, von dem sie sich nur langsam erholte. Auch die NS-Politik trug ihren Teil dazu bei: Fleißers Werke standen auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“.

Erst Ende der 60er Jahre begann die Wieder- bzw. Neuentdeckung der verarmten Schriftstellerin durch Rainer Werner Fassbinder, Martin Sperr und Franz Xaver Kroetz. 1972 erlebte sie noch die Publikation ihrer Gesammelten Werke im Suhrkamp Verlag. Vor 50 Jahren, am 2. Februar 1974, starb sie in Ingolstadt.

"Diese Frau bereichert unsere Literatur um das seltene Schauspiel ganz unverbohrten provinzialen Stolzes … Der aufsässige Dialekt, der die Heimatkunst von innen heraus sprengt, ist nur die eine Seite des sprachlichen Könnens, das in diesen Novellen steckt. Es gibt da nämlich noch eine Verstiegenheit: die namenlose Verwirrung nämlich, mit der das volkstümliche Sprechen sich auf den Weg macht, die Stufen der sozialen Redeleiter hinanzuklimmen, das ›feine‹, ›gehobene‹ Deutsch der herrschenden Klassen zu sprechen. Diese Verwirrung, diese hochstaplerische Schlichtheit ist hier ein Kunstmittel ersten Ranges geworden."

(Walter Benjamin über Marieluise Fleißer, 1929)

„Die im Dunkeln“ – am 30. Januar 2024
Erzählung von Marieluise Fleißer, die vor 50 Jahren verstarb.
Lesung mit Irina Wanka
Regie: Irene Schuck

Der Text ist in Band 3 der Gesammelten Werke Fleißers im Suhrkamp Verlag erschienen.
Mit dessen freundlicher Genehmigung gibt’s die Sendung auch in unserem Podcast „Lesungen“.

Moderation und Redaktion: Kirsten Böttcher


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