Bayern 2 - radioTexte


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Katja Bürkle liest Maria Borrély: "Mistral"

Raspelnder Wind, Feldarbeit, Mandeln und Lavendel – Marie ist ein Glückskind, aber ein trauriges. Und sie ist verliebt. Katja Bürkle liest diese erstaunliche Wiederentdeckung aus der Provence.

Stand: 07.12.2023 | Archiv

„Mistral“ von Maria Borrély
Wiederentdeckung aus der Provence, Lesung mit Katja Bürkle
Ein Hörbuch-Podcast von Bayern 2

Und im Radio:
am 10.12. um 12.30 Uhr in den radioTexten auf Bayern 2
danach vier Folgen immer dienstags und donnerstags um 21.05 Uhr

"Die knallgrüne Minze gibt sich ausgelassen dem Wind hin, seiner Freude, seiner Musik, seinem Übermut. Schimmernd im Morgenlicht schneidet die Sense ins blutige Fleisch des Süßklees. Sie saust wie der Wind in den Ohren. Am Hang blüht der Salbei, und es sieht aus, als wäre Himmel auf die Blätter getropft."

(Maria Borrély: Mistral)

Ein Bauernhof in der Haute-Provence: Hier, auf dem Plateau, ist man allen Winden preisgegeben, muss sich vor allem mit dem Mistral arrangieren, diesem trockenen, wilden Fallwind, der „die Erde bis auf die Knochen abraspeln zu wollen“ scheint. Hier, in Puimoisson, zwischen Mandelbäumen, Oliven- und Lavendelfeldern lebt die junge Marie mit ihrer Familie. Die Maurels nennen die schöne Tochter ihr „Glückskind“. Der Vater träumt davon, die große Heide umzupflügen, mehr Korn zu ernten. Marie träumt von Olivier. Er jedoch macht sich rar. Als Marie sein Geheimnis herausfindet, gerät alles ins Wanken.

Keinem Geringeren als Literaturnobelpreisträger André Gide ist es zu verdanken, dass dieses schmale Debüt mit dem Titel „Sous le vent“ einer unbekannten Lehrerin aus der ländlichen Provence 1930 im renommierten Verlag Gallimard erschien. Begeistert schrieb Gide damals an Maria Borrély: „Ich stehe vor Ihrem Buch wie vor einem Gemälde, an dem mich jeder einzelne Pinselstrich so sehr verzaubert, dass mich nicht mehr so kümmert, was es darstellen mag“. Auch das französische Feuilleton zeigte sich beeindruckt, feierte die bildgewaltige Prosa der damals 40-jährigen Debütantin als „Gesang auf die Natur“ und als „eines der schönsten Gedichte von Liebe und Tod, die wir je lesen durften“. Doch nach drei Romanen wurde es still um Maria Borrély. Denn die 1890 in Marseille geborene Tochter eines Polizisten wollte als Reformpädagogin, Mitglied der Kommunistischen Partei und Mutter in der Haute-Provence weder literarischen Ruhm noch urbane Hauptstadtluft schnuppern. Journalisten mussten zu ihr kommen für ein Interview, eine damals beschwerliche Reise! Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war an Schreiben bald sowieso nicht mehr zu denken. Die Borrélys waren nach Digne-les-Bains gezogen; ihre Wohnung wurde zur Basis der örtlichen Resistance. Maria Borrély starb 1963 in Digne-les-Bains.

„Mistral“ – Wiederentdeckung in der Dorfkneipe

Übersetzerin Amelie Thoma überträgt feministische Ikonen wie Simone de Beauvoir oder Leïla Slimani ins Deutsche. Ihren Urlaub verbringt sie seit Jahren in Puimoisson. Dabei entdeckte sie eines Tages Borrélys Roman – „Sous le vent“ im Original - der in einer Vitrine einer Dorfkneipe ausgestellt wurde. Neugierig begann Amelie Thoma zu lesen und war gebannt:

"Ich machte mich auf eine ländlich-pittoreske Erzählung gefasst, doch die Sprache des kurzen Romans war beeindruckend: zugleich bäuerlich und poetisch, archaisch und modern. Ein echtes literarisches Kleinod!"

(Amelie Thoma, Nachwort zum Roman Mistral)

Nature Writing, Klimawandel, Feminismus

In der Literatur hat das Wetter oft prophetische Kraft, spiegelt Seelenleben. Das ist auch in „Mistral“ der Fall, dem Roman, in dem der Wind die Titelfigur ist; dieser schneidende, raspelnde Mistral, dem die knorrigen Bäume, die Ernte, die Höfe ähnlich schutzlos preisgegeben sind wie die unglücklich verliebte Heldin Marie ihrem Gefühlschaos – „archaisch und modern“ zugleich, wie Amelie Thoma in ihrem klugen Nachwort schreibt. Maries Schicksal scheint an die von Winden und Bauern zerfurchte Erde gebunden, antiken Tragödien ähnlich. 

"Man hat die Erde kaputt gemacht, das Klima verändert. Es regnet immer weniger. Die Quellen versiegen. Unsere Berge und diese Hochebene waren früher nicht das, was sie heute sind. Sie waren nicht ausgetrocknet, kahl wie die Rücken räudiger Tiere, sondern dicht belaubt. Das Land ähnelt dem von früher nicht mehr als die Handfläche dem Handrücken. Die Erde ist alt geworden. Unter ihrer gelben Haut treten die Felsen, die ihre Knochen sind, hervor. Der Wind stürzt sich auf sie wie ein Totschläger. Er kratzt, heult mörderisch."

(Maria Borrély, Mistral)

Maria Borrély hat fast ihr ganzes Leben in einer Landschaft verbracht, die kulturverwaist und zugleich charaktervoll ist. Die existentielle Bedeutung von Wetter und Klima, der Natur für uns Menschen ist auf den nur hundert Seiten stets präsent und natürlich auch heute noch brisant als frühes Nature Writing.

Das radioTexte-Team freut sich mit Amelie Thoma und dem Kanon Verlag, „Mistral“ nun auch als Hörbuch-Podcast anbieten zu können:
hier geht's zu "Mistral" in der ARD Audiothek!

Lesung: Katja Bürkle
Ton und Technik: Daniela Röder und Tim Höfer
Regie: Irene Schuck
Moderation und Redaktion: Kirsten Böttcher
Produktion: Bayerischer Rundfunk 2023

Das Buch ist im Kanon Verlag erschienen, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma.


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