Xenia Tiling liest Dana von Suffrin: Nochmal von vorne
Zwei Millennials in der Midlifecrisis, die über ihre Wurzeln stolpern: ein schwarzhumoriges Familienepos zwischen München und Tel Aviv, gelesen von Xenia Tiling
"Weil mein Vater in Deutschland seinen Doktor machen wollte, nachdem er nach dem Krieg nicht mehr zur Ruhe kam in dem Land, in dem er aufgewachsen war, landete meine Großmutter im Altersheim… Und weil mein Vater ein paar Monate später wiederum über ein Bein stolperte, wurden Nadja und ich gezeugt (…) und bis heute weiß ich nicht, ob meine Eltern wussten, was sie da taten. Wir wurden eine Familie, aber erst später ist uns allen klar geworden, was das bedeuten sollte."
(Dana von Suffrin, Nochmal von vorne)
Nach dem Tod von Mordi Jeruscher sitzt Tochter Rosa - Mitte dreißig, Akademikerin und Single - auf dem grünen Sofa ihres Vaters und ist wütend auf ihre Schwester Nadja, die sie mit allem allein lässt, wieder einmal. Genau wie vor sieben Jahren, als ihre Mutter beerdigt werden musste. Immerhin wird nun ein Leichnam im Sarg liegen – ihre Mutter gilt bis heute gilt als verschollen, irgendwo vor Ko Samui ertrunken vielleicht. Während Rosa, die Ich-Erzählerin des zweiten Romans von Dana von Suffrin, also durch die Münchner Wohnung ihres gerade verstorbenen Vaters streift, um dessen bescheidenen Besitz aufzulösen und nebenbei eine Handynummer ihrer Schwester aufzustöbern, dringen aus allen Ecken und Zimmern zugleich Erinnerungen hervor, die Rosa jahrelang tief in ihrem Inneren eingekapselt hatte. Auch Kindheitsträume steigen wieder hoch.
"Ich träume davon, wie wir alle um einen Tisch sitzen, drei Generationen der Familie Jeruscher vereint, drei Generationen, die niemals für länger als ein paar Tage vereint waren (zum Glück, hätte meine Mutter gesagt)... Ich erzähle nie jemanden davon, denn die Träume, die allzu leicht zu deuten sind, weisen auf ein einfaches Seelenleben hin."
(Dana von Suffrin, Nochmal von vorne)
Familienbande – "nochmal von vorne" ?
Auch in der ARD Audiothek !
„Histrioniker“ seien sie alle, so die Laiendiagnose von David, dem Ex-Freund der Ich-Erzählerin Rosa, der jüngsten Tochter, die still beobachtet und Harmonie ersehnt. Die ganze Familie leide unter dieser Persönlichkeitsstörung – manipulative, überemotionale Egozentriker, die sogar der Normalo David auf Dauer nicht erträgt. Doch genauso ergeht es den Jeruscher ja selbst: Mutter Veronika, gebürtig aus Landshut, deren Traum vom freigeistigen Leben im Haushaltsalltag versinkt, lässt sich scheiden von Mordi Jeruscher, dem jüdischen Chemiker, der nach dem Einsatz im Jom-Kippur-Krieg 1973 nur noch raus will aus Israel, weg von seiner dementen Siebenbürger Übermutter Zsazsa und in München bei den Wasserwerken endet. Die Töchter Nadja und Rosa verbinden mit ihrer Kindheit nicht viel anderes als Dauerstreit, Gehässigkeit und wachsende Armut. Was also hält eine Familie zusammen, in der es nur Fliehkräfte zu geben scheint, in der immer etwas zu Bruch geht? Was bleibt von der eigenen Geschichte, was geben wir weiter – und wie halten wir Geschichte fest?
"Ich weiß nicht, wer uns alle durch die Geschichte schmettert und uns an den blödesten Orten aufkommen lässt. Mein Großvater hätte gesagt: Der liebe Gott!, und er hätte sich nicht beschwert, denn Lewitas aus Jabne sagt: Sei sehr, sehr demütig, denn die Hoffnung des Menschen ist das Gewürm. Mein Vater hat sich solche Gedanken gar nicht gemacht… Er fand, dass man das tun muss, was das Leben einem eben aufgibt… Und wir? Wir glaubten an gar nichts mehr."
(Dana von Suffrin, Nochmal von vorne)
Ein „federleichtes, jahrhundertschweres Buch“
Solche Fragen beschäftigen sie schon lange: Dana von Suffrin, 1985 in München geboren, ist promovierte Historikerin und Schriftstellerin. Ihr hochgelobtes Debüt „Otto“ (2019) über einen jüdischen Familienpatriarchen, der zum Pflegefall wird, wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, u.a. mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis, dem Ernst Hoferichter-Preis und dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises. Und schon vor fünf Jahren wusste die Münchnerin mit ihrem trockenen Witz zu verblüffen – trotz so schwergewichtiger Themen wie Holocaust, Kriegstraumata, dysfunktionale Familien, Krankheit und Tod. In einer Koproduktion des Hessischen mit dem Norddeutschen und Bayerischen Rundfunk hat die beliebte Schauspielerin Xenia Tiling („Servus Baby“) dieses unsentimentale, tragikomische Familienepos zwischen Siebenbürgen, Tel Aviv und München vollständig eingelesen.
"Dana von Suffrin hat ein federleichtes, jahrhundertschweres Buch geschrieben, zum Durchdrehen traurig und vor allem gestört lustig, dass eigentlich niemand je wieder versuchen muss, einen Roman zu schreiben."
(Dana Vowinckel, Autorin von „Gewässer im Ziplock“)
"Nochmal von vorne" in der ARD Audiothek als Hörbuch-Podcast
Vollständig gelesen von Xenia Tiling
Regie: Marlene Breuer
Produktion: Hessischer Rundfunk/Bayerischer Rundfunk/Norddeutscher Rundfunk 2024
Das Buch ist bei Kiepenheuer und Witsch erschienen.
Redaktion und Moderation: Kirsten Böttcher