Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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20. Februar 1963 Der Papst-Lästerer Hochhuth bringt die Republik zum Beben

Das "christliches Trauerspiel", das die Haltung des Vatikans zum Holocaust thematisiert, erschüttert die Republik und sorgt für diplomatischen Verwicklungen. Rolf Hochhuths Stück "Der Stellvertreter" fragt: Warum schwieg ausgerechnet der Papst, "Stellvertreter Christi auf Erden", zum Massenmord des Holocaust? Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 20.02.2024 | Archiv

20 Februar

Dienstag, 20. Februar 2024

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Redaktion: Frank Halbach

Natürlich weiß er es. Er weiß sofort: dass es Ärger gibt, richtig fetten Ärger. Aber genau darum wird er es tun. Genau deshalb wird er das Stück auf die Bühne bringen. Weil Theater nicht einlullen darf, weil es aufwecken, wachrütteln, anecken, manchmal sogar wehtun muss. So hat es der Bühnenberserker und Regiezauberer Erwin Piscator immer gehalten: als kämpferischer, politisch engagierter Regisseur im Berlin der 1920er Jahre, und jetzt wieder, als Intendant der Freien Volksbühne im West-Berlin der Nachkriegsjahre.

Unangenehm und schmerzlich

Dieses Stück, das ihm der Rowohlt-Verlag da zugeschickt hat, dieser monströse Erstling des unbekannten Autors Rolf Hochhuth, es kommt zur rechten Zeit. Die junge Bundesrepublik darf sich nicht länger davor drücken, die Verbrechen der Nazidiktatur aufzuarbeiten. Die Vergangenheit soll nicht bewältigt, nicht entsorgt, nicht abgewickelt werden. Sie will hinterfragt, begriffen und bewertet sein. Dazu müssen alle Fakten auf den Tisch, selbst die unangenehmen, auch die bitter schmerzlichen. Und exakt das tut Der Stellvertreter. Dieses christliche Trauerspiel schreit eine der drängendsten Fragen laut hinaus: Warum hat der Papst zum Massenmord an den Juden geschwiegen? Warum hat sich Pius XII, warum hat sich der Stellvertreter Christi nicht schützend vor die Verfolgten und Getöteten geworfen?

Obwohl Piscator allen Mitarbeitern strengstes Stillschweigen über den Inhalt des Stellvertreters auferlegt, sickern Wochen vor der Uraufführung lange Textauszüge durch. Die katholische Presse eröffnet sofort das Sperrfeuer gegen die vermeintliche Papstlästerung, und noch bevor sich am 20. Februar 1963 der Premierenvorhang hebt, prügeln beleidigte Katholiken und bebende Kunstfreiheitskämpfer publizistisch aufeinander ein.
Weil der Berliner Senat Ausschreitungen fürchtet, sichern Polizisten das Foyer der Freien Volksbühne. Aber es bleibt ruhig. Kein Aufruhr, kein Krawall. Nur Betroffenheit und Stille. Die Kritiken rühmen ein bewegendes Theaterereignis, Hochhuth ist über Nacht berühmt.

Warum?

Der eigentliche Skandal zündet verzögert, dafür desto heftiger. Der Streit um den Stellvertreter tritt eine Debatte los, wie sie die junge Republik noch nicht erlebt hat: die Feuilletons laufen heiß, Leserbriefe pöbeln, Bischöfe geißeln die Lästerung, Papst Paul VI. wirft Hochhuth "unverschämte Fabeleien" und "undankbares Geschrei" vor, die Bundesregierung bedauert öffentlich die kränkenden Angriffe.
Rasch ist die Stimmung derart aufgeheizt, dass die wenigen Folgeaufführungen nicht nur in Deutschland regelmäßig Bombendrohungen, Proteste und Tumulte auslösen. In Basel legen Demonstranten die Innenstadt lahm, in Paris stürmen erregte Zuschauer die Bühne, in Wien watschen sich aufgewühlte Herren im Parkett, wiederholt stören Stinkbomben, Böller, Trillerpfeifen die Vorstellungen.
Was für ein Theater! Und warum das alles? Vielleicht, weil das Stück eine ganze Väter- und Müttergeneration und auch uns Nachgeborene mit bohrenden Fragen peinigt: Warum haben wir das zugelassen? Warum haben wir geschwiegen, weggeschaut und weggehört?


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