Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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9. April 1939 Marian Anderson singt vor dem Lincoln Memorial in Washington

Sie sang in Berlin, London, Mailand und Paris, in Aufführungen geleitet von Dirigenten wie Arturo Toscanini oder Bruno Walter: die Opernsängerin Marian Anderson. 1939 verhinderte eine konservative Frauenvereinigung ihren Auftritt - denn Anderson war keine Weiße. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Autorin: Ulrike Rückert

Stand: 09.04.2024 | Archiv

09 April

Dienstag, 09. April 2024

Autor(in): Ulrike Rückert

Sprecher(in): Irina Wanka

Redaktion: Frank Halbach

Der Himmel hing grau über Washington, und ein kalter Wind fegte durch die Stadt. In einen Nerzmantel gehüllt, trat Marian Anderson aus der Halle des Lincoln Memorial und stieg die Stufen hinab. Der Anblick raubte ihr den Atem: fünfundsiebzigtausend Menschen drängten sich am Fuß des Denkmals. Auf der Bühne, die auf die breite Treppe gebaut worden war, saßen zweihundert prominente Gäste. Ihr Konzert an diesem Ostersonntag, dem 9. April 1939, war zu einem nationalen Ereignis geworden - einer großen Demonstration gegen die Diskriminierung von Afroamerikanern.

Das "einfache farbige Mädchen"

Marian Anderson war ein Weltstar, gefeiert für die Ausdruckskraft und den enormen Umfang ihrer Altstimme. Diesen Erfolg hatte sie gegen große Widerstände errungen, angefangen bei der Musikschule, wo man ihr sagte, man nehme keine "Farbigen" als Schüler an. Klassische Musik war im rassistischen Weltbild weißer Musik, etwas, das Schwarze nicht meistern könnten. Auch als sie um die Vierzig war, eine Diva mit internationaler Karriere und teuren Kleidern, lobten Kritiker sie herablassend als "dieses einfache farbige Mädchen". Jede Tournee in den USA war voller Hürden und Demütigungen, wenn sie wegen ihrer Hautfarbe kein Hotelzimmer bekam und Restaurants nicht betreten durfte.

Für ihre Tournee 1939 war wieder ein Konzert in Washington geplant worden. Sie war schon oft in der Stadt aufgetreten, in Schulaulen und Kirchen – Räumen, die ihrer großen Fangemeinde nicht mehr gerecht waren. Der größte Konzertsaal der Stadt war die Constitution Hall. Sie gehörte den "Töchtern der amerikanischen Revolution", einem exklusiven Frauenverein, der sie nicht an schwarze Künstler vermietete.
Die Veranstalter ihres Washingtoner Auftritts, Organisatoren einer Konzertreihe an der schwarzen Howard-Universität, versuchten es dennoch und wurden abgewiesen.

Sie wird singen!

Ein Sturm brach los. Die Veranstalter erbaten und erhielten Solidaritätsadressen von den größten Stars der klassischen Musik in Amerika. Bürgerrechtler in Washington riefen zu Protesten auf. Präsidentengattin Eleanor Roosevelt, ein Mitglied der "Töchter der amerikanischen Revolution", trat aus dem Verein aus. Die nationale Presse berichtete.

Marian Andersons Manager erklärte, sie werde auf jeden Fall singen, und wenn sie keinen angemessenen Saal bekäme, dann eben im Freien. Die Bürgerrechtler fanden, der richtige Ort sei das Denkmal für Lincoln, den Präsidenten, der die Sklaven befreit hatte. Der Innenminister, in dessen Zuständigkeit das Lincoln Memorial lag, war sofort einverstanden. Präsident Roosevelt sagte, es sei ihm völlig egal wo, wenn sie nur singe. Hunderte Prominente erklärten sich solidarisch; viele von ihnen reisten am Ostersonntag an und nahmen auf der Bühne Platz.
Marian Anderson selbst war eine unwillige Kämpferin. Sie scheute Konfrontationen, das sei einfach nicht ihre Natur. Aber sie verstand, dass sie zu einem Symbol geworden war und dieser Situation nicht ausweichen konnte. Also trat sie mit zugeschnürter Kehle vor die Menge, schloss kurz die Augen, atmete tief und begann zu singen.


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