Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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5. September 2001 Halberstadter Cage-Konzert startet, längstes Konzert der Welt

Für manche musikalische Erfahrung braucht man Ausdauer. Wer einmal den "Ring" in der Oper erlebt hat auf dem Stehplatz zum Studententarif, weiß was Pausen bedeuten. Ein Konzert ohne Pause allerdings entwirft John Cage, sein Orgelstück in Halberstadt geht durch - 639 Jahre lang. Autor: Martin Trauner

Stand: 05.09.2023 | Archiv

05 September

Dienstag, 05. September 2023

Autor(in): Martin Trauner

Sprecher(in): Christian Baumann

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Am 5. September 2001 startet in Halberstadt, um die 40.000 Einwohner, gelegen in Sachsen-Anhalt, ein Langzeitexperiment. Der exakte Ort: die kleine Kirche Sankt-Burchardi. Baustil: Romanisch. Der Versuchsaufbau: Eine extra dafür konstruierte Orgel, die sogenannte John-Cage-Orgel. Die Zeitdauer des Experiments beträgt voraussichtlich 639 Jahre. Ein musikalisches Langzeitexperiment soll es werden. Hier soll das längste Musikstück der Welt aufgeführt werden.

"ASLSP"

Also erst mal vorne weg: Das Experiment läuft noch. Wenn auch sehr langsam. Die John-Cage-Orgel in der kleinen Burchardi-Kirche gibt seit über zwei Jahrzehnten immer noch Töne von sich. Wenn auch nicht viele. Seit Beginn des Experiments erfolgten erst 15 Klangwechsel. Das Stück, das hier ertönt, heißt: "Organ squared, as slow as possible", auf Deutsch: "Die Orgel im Quadrat, so langsam wie möglich". Aber was hat es damit auf sich, mit diesem musikalischen Langzeitexperiment?

John Cage

Nun, vor allem geht es um den Komponisten John Cage: ein Amerikaner. Geboren am, was für ein Zufall, am 5. September 1912 in Los Angeles. Er war vielleicht einer der skurrilsten, schillerndsten, aber auch einer der innovativsten Notenschreiber in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein berühmtestes Werk heißt: "4:33" (auch auf dt). Für jedes Ensemble geeignet. Hier passiert: nichts. Denn die Satzanweisung lautet: "Tacet". - Also: man schweigt. 4 Minuten 33 lang oder genau 273 Sekunden. Ein findiger Kopf fand heraus, das sei doch das absolute Temperaturminimum, minus 273 Grad Celsius.

Und Cage: Der wusste das gar nicht, er, der Amerikaner, misst in Fahrenheit ... Aber trotzdem spannend. John Cages Leitzsatz: es darf auch länger dauern, halt so wie es die Interpreten empfinden. Der Komponist sei nur noch der Organisator von Klängen. Und Komposition heißt "Zufall", also Aleatorik. Sein "Organ squared, as slow as possible" ließ er von einem Zufallsprogramm auf seinem Computer entwerfen. Zahlenspiele. Ursprünglich dachte er wohl, sein 8-seitiges-Stück könnte um die 30 Minuten dauern, aber dann gab es schon bald eine 8-stündige Version für die Orgel.

Halberstadt

Und in Halberstadt blähte man das Werk auf 639 Jahre auf. Warum? Na, das ist nun gar nicht mehr so einfach. Also. Bei einem Orgelspielerkongress im Jahre 1998 kam die Idee auf, das Stück mit der Anweisung"so langsam wie möglich" endlich mal tatsächlich so langsam wie möglich aufzuführen. Und dann fand jemand heraus, dass die Orgel im Halberstädter Dom im Jahr 2000 genau 639 Jahre alt werden würde. Also könnte man doch ein Werk von John Cage spielen. 639 Jahre lang in die Zukunft. Deshalb rechnete man "Organ squared, as slow as possible" von seiner ursprünglichen Dauer einfach auf die 639 Jahre hoch.

Töne sind einfach nur Töne

Der Start erfolgte dann freilich erst ein Jahr später, im Jahr 2001, an John Cages Geburtstag. Heute sind die Wechsel der Tonfolgen ein touristisches Ereignis. Passiert ja nur alle ein, zwei Jahre. Aber was ist der ästhetische Genuss von einem so langen Werk? John Cage sagte seinerzeit:"Töne sind einfach Töne" ... Oder wie wir sagen: In 639 Jahren ist die Moderne ein alter Hut ... .


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