Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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1. Februar 2024 Cora Crippen verschwindet

Nach einem geselligen Abend bei Freunden verschwindet die Gattin. Auf die Frage, wo Cora Crippen ist, lügt der Gatte. Dann sucht er das Weite und nimmt seine Sekretärin gleich mit. Forensiker verausgaben sich, der Gatte wird schließlich schuldig gesprochen. Womöglich aber zu Unrecht. Autorin: Ulrike Rückert

Stand: 01.02.2024 | Archiv

01 Februar

Donnerstag, 01. Februar 2024

Autor(in): Ulrike Rückert

Sprecher(in): Irina Wanka

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Es war ein netter, gemütlicher Abend. Die Crippens hatten die Martinettis zum Essen eingeladen, es gab Rinderbraten. Dann spielte man Karten bis in den frühen Morgen des 1. Februar 1910.

Danach sah niemand Cora Crippen je wieder, und das respektable Haus mit Bäumen im Vorgarten wurde zum Schauplatz eines der spektakulärsten Kriminalfälle in der Geschichte von London.

Wo ist Cora?

Cora musste dringend nach Amerika reisen, sagte ihr Mann. Die Crippens waren Amerikaner – sie eine gescheiterte Varieté-Sängerin, er ein Arzt, der dubiose Geschäfte mit Wundermitteln betrieb. Crippens Sekretärin Ethel Le Neve zog bei ihm ein, und Ende März gab er bekannt, dass Cora in Amerika gestorben sei. Ihre Freundinnen forschten nach und fanden keine Spur von ihr. Schließlich ging eine von ihnen zu einem hohen Beamten bei Scotland Yard, mit dem sie bekannt war. Er ordnete Ermittlungen an.

Detective Chief Inspector Dew befragte Crippen, der nun sagte, Cora habe ihn verlassen und er habe gelogen, um Gerede zu vermeiden. Am folgenden Tag verschwand Crippen mit Ethel Le Neve.

Wo ist Coras Mann?

Jetzt ließ Dew das Haus auf den Kopf stellen, und die Polizisten fanden Cora unter dem Ziegelboden im Kohlenkeller – oder jedenfalls etwas, das sie für Überreste von Cora hielten: eine Masse aus Haut, Fleisch und Organen, ohne Knochen, Glieder und Kopf.
Ein Steckbrief mit Fotos der Flüchtigen ging an die englische und europäische Presse, und eine Woche später erhielt Dew die Nachricht, Crippen samt Sekretärin seien auf einem Dampfer unterwegs nach Kanada. Am nächsten Tag war auch Dew auf See.

Zeitungsleser beidseits des Atlantiks verfolgten die dramatische Jagd, möglich durch modernste Technik: Den superschnellen Dampfer, auf dem Dew seiner Beute nacheilte, und der drahtlosen Telegrafie, mit der der Kapitän von Crippens Schiff den Mann von Scotland Yard alarmiert hatte. Nachrichten flogen hin und her.

Dew war zuerst am Ziel und verhaftete Crippen und Le Neve noch an Bord. Im Oktober stand Crippen in London wegen Mordes an seiner Frau vor Gericht. Die Anklage hing völlig ab von Indizien und den Aussagen der forensischen Experten – vor allem der von Bernard Spilsbury. Selbstsicher identifizierte der Pathologe eine Hautverfärbung als Narbe, die einer alten Operationsnarbe auf Cora Crippens Bauch entspreche. Die Jury besichtigte das Hautstück auf einer Servierplatte und urteilte nach siebenundzwanzig Minuten: Schuldig. Im November wurde Hawley Harvey Crippen gehängt. Ethel Le Neve ging frei aus.

Für den Gerichtsmediziner Bernard Spilsbury begann mit dem Crippen-Prozess eine grandiose Karriere als vermeintlich unfehlbarer Star einer Wissenschaft, die tatsächlich noch in den Kinderschuhen steckte. Um den Fall Crippen rankten sich Spekulationen über Unschuld und Intrigen.
Ein Jahrhundert später extrahierten Wissenschaftler DNA aus Spilsburys erhaltenen Präparaten und verglichen sie mit der von drei Frauen, die sie als Verwandte von Cora Crippen ermittelt hatten. Ergebnis: die Überreste seien nicht die von Cora, und überdies von einem Mann. Auch darüber wird gestritten.


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