Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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24. Januar 1962 Tunnelflucht nach West-Berlin

Wo die Freiheit welkt, scheint die Phantasie üppig zu wachsen. Vor allem so genannte Republikflüchtlinge aus der DDR haben hierfür erstaunliche Beweise geliefert. Besonders aufwendig war eine Tunnelflucht nach West-Berlin in der Nacht auf den 24. Januar 1962.

Stand: 24.01.2011 | Archiv

24 Januar

Montag, 24. Januar 2011

Autor: Christian Feldmann

Sprecher: Andreas Wimberger

Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung

Die originellste Version der Republikflucht, wie dieses fluchwürdige Vergehen in der DDR laut Paragraph 213 Strafgesetzbuch hieß, war wohl jene mit einem selbstgebauten Heißluftballon im September 1979: Zwei Familien hatten sich die Gondel in der Waschküche aus Nylonbahnen zusammen gebastelt. Gesichert war der Ballon nur durch eine Wäscheleine in Kniehöhe, und es bestand die Gefahr, dass sich der nicht imprägnierte Nylonstoff durch die Flammen der Propangasflaschen entzündete. Doch die Flucht über die innerdeutsche Grenze gelang, und die vier Erwachsenen und vier Kinder waren die Helden des Tages.

Nicht minder kreativ war ein vierundzwanzigjähriger Student, der sich fünf Jahre später mit einem Trabi-Motor ein Fluggerät konstruierte und damit hundert Kilometer weit über die Tschechoslowakei nach Österreich durch die Lüfte segelte. Einen weiteren erfolgreichen Republikflüchtling, er hatte mit einem Fahrradhilfsmotor ein Mini-U-Boot gebastelt und war damit durch die Ostsee nach Dänemark gelangt, stellte eine westdeutsche Firma sofort an, um aus dem Fluchtfahrzeug ein Serienmodell zu entwickeln.

Sage und schreibe 5.075 gelungene Fluchten nach Westberlin oder Westdeutschland wurden in den 28 Jahren zwischen Mauerbau und Mauerfall registriert. So unbezwingbar muss für viele DDR-Bürger der Wunsch gewesen sein, abzuhauen aus einem Staat, der mit großen Idealen angetreten war, sich fürsorglich zeigte, aber keine Freiheit erlaubte. Allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 1961 verließen 200.000 Menschen die DDR auf Nimmerwiedersehen. Um ein weiteres Ausbluten ihres Staates zu verhindern, begannen die DDR-Gewaltigen am 13. August 1961 mit dem Bau einer 1.378 Kilometer langen Betonmauer. Das Ungetüm war mit Elektrozäunen, Selbstschussanlagen und Minenfeldern ausgestattet und wurde mit viel Chuzpe "antifaschistischer Schutzwall" genannt. Die Grenzsoldaten bekamen Befehle wie diesen: "Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben." So eine Anweisung vom Oktober 1973 an eine Geheimdienst-Einheit im Grenzbezirk Magdeburg.

Solche Dienstanweisungen zeigten Wirkung: Bei Fluchtversuchen starben an die tausend Menschen. Weil die Sperranlagen technisch immer mehr perfektioniert wurden, verfielen die Freiheitsdurstigen immer öfter auf die Idee, die Mauer unterirdisch zu überwinden: Sie begannen Tunnel zu graben, zahllose Tunnel, bis zu 145 Meter lang. Der erste, bereits im September 1961 von hilfreichen Westberliner Studenten ausgebuddelt, führte von einem Urnengrab des Pankower Friedhofs in Ostberlin zum Westberliner S-Bahnhof Schönholz. Mehr als 20 Ostberliner, mit Trauerflor und Kränzen als Hinterbliebene getarnt, robbten vom Friedhof aus durch den Katakombengang in die Freiheit.

In der Nacht zum 24. Januar 1962 stieg der Ostberliner Heizungsmonteur Erwin Becker zusammen mit Verwandten, Nachbarn und Freunden, insgesamt 28 Menschen, in den Keller seines nahe der Mauer gelegenen Hauses hinunter. Zwei Wochen zuvor hatte er die Kellerwand durchbrochen und mit Freunden einen 26 Meter langen, 1 Meter 10 hohen Stollen gegraben, direkt unter den patrouillierenden Grenzsoldaten, deren Stiefel-tritte man unten im Tunnel hören konnte. Irgendwann wurde der Sauerstoff knapp, der Stollen drohte einzustürzen. Doch die 28 schafften die Flucht, gruben sich drüben im französischen Sektor mit bloßen Händen, einer Eisenstange und einer Kinderschippe ins Freie. Drei Stunden später entdeckte und flutete die Stasi den Tunnel.


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