Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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23. Februar 2002 Ingrid Betancourt wird von Rebellen entführt

Sie wird das Juwel der kolumbianischen FARC-Guerilla: Am 23. Februar 2002 entführen die Guerilleros die Grünen-Politikerin Ingrid Betancourt und halten sie jahrelang im Dschungel als Geisel gefangen.

Stand: 23.02.2011 | Archiv

23 Februar

Mittwoch, 23. Februar 2011

Autorin: Kirsten Böttcher

Sprecher: Andreas Wimberger

Redaktion: Thomas Morawetz /Wissenschaft und Bildung

"Willkommen, all unsere Zuhörer in den Wäldern Kolumbiens!"

So lautet die mitternächtliche Begrüßung zu einer Radiosendung, die ein trauriges Landesspezifikum ist: Der Journalist Herbin Hoyos hat das Geiselradio Kolumbiens begründet. Jeden Samstag ab null Uhr moderiert er sechs Stunden lang die Sendung "Las Voces del Secuestro", die "Stimmen der Entführung", aus Bogotá. In den 1990er-Jahren war seine Hörerschaft stark gewachsen: Tausende von kolumbianischen Guerillabewegungen entführte und im unzugänglichen Dschungel oft jahrelang festgehaltene Geiseln. Im Jahr 2000 ist Kolumbien Spitzenreiter in der weltweiten Rangliste der Entführungsdelikte mit mindestens 3.500 Fällen. Zwei Jahre später reihte sich auch die Mutter der "berühmtesten Geisel der Welt" ein in die Warteschlange vor Bogotás Geiselradio um ihrer Tochter Ingrid tröstende Grüße zu schicken.

Die Grünen-Politikerin Ingrid Betancourt befindet sich am 23. Februar 2002 als erste weibliche Präsidentschaftskandidatin Kolumbiens im Wahlkampfendspurt, als sie in eine Straßensperre der FARC-Guerilla gerät und gekidnappt wird. Die sich selbst als marxistisch bezeichnende FARC, die "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens", finanzieren sich mittels Drogenhandel und Lösegeldzahlungen für Entführungsopfer. Geiseln höheren Bekanntheitsgrades fungieren als Austauschgeiseln gegen inhaftierte Guerilleros. Ingrid Betancourt ist das Juwel der FARC. 2.320 Tage wird sie in den Camps der 'Volksarmee' zubringen, zunächst zusammen mit anderen politischen Geiseln, dann - nach gescheiterten Fluchtversuchen - isoliert, an Hepatitis B erkrankt, festgekettet, in einer Hängematte zusammengerollt. Ihr Status ist Segen und Fluch zugleich: Mal erhält sie besondere Lebensmittel, gar Kosmetika, im nächsten Moment ist gerade sie das Ziel prekärer Demütigungen des Commandante. Auch Mitgefangene betrachten sie missgünstig, insbesondere dann, wenn ihr Name im Radio fällt und wieder mal nicht der eigene.

Die hochgebildete Tochter einer Abgeordneten und eines UNESCO-Botschafters hatte einen französischen Diplomaten geheiratet, sich aber bewusst für ein Leben in Kolumbien entschieden. Sie wollte gegen die Korruption in der Politik kämpfen - Ingrid war bekannt. Im Unterschied zu den vielen anderen FARC-Geiseln verliert sie deshalb jetzt ihre Stimme nicht - andere sprechen für sie weiter. Im Dschungel hört sie manchen Aufruf ihrer Fürsprecher im Radio: Dominique de Villepin, Papst Johannes Paul II.

Während die Jahre verstreichen, reist ihre Mutter Yolanda zwischen Bogota und Paris hin und her, um gegen das Vergessen anzukämpfen. Im November 2007 entdeckt das Militär ein FARC-Video, das die sonst wortgewaltige Politikerin Betancourt mit gesenktem Blick, ausgemergelt und angekettet in Guerilla-Montur zeigt. Schlagartig ist ihr Schicksal wieder im internationalen Fokus: In Kolumbien protestieren landesweit Millionen von Menschen erstmalig gegen die FARC. In Frankreich hängt Betancourts Konterfei überlebensgroß an Rathäusern und in U-Bahnhöfen, es gibt Protestmärsche, Mahnwachen. An die Spitze der Proteste setzt sich geschickt Frankreichs frisch gewählter Präsident Nicolas Sarkozy. Unter internationalem Druck gibt der kolumbianischen Präsident Uribe schließlich Anfang Juli 2008 dem Militär den Befehl für die spektakuläre Befreiungsaktion. Die untypische, weil unblutige Rettung von 15 Geiseln gelingt, ebenso die filmische Aufzeichnung der Aktion.

Nach sechseinhalb Jahren ist Ingrid Betancourt endlich die berühmteste Ex-Geisel der Welt. Ihre Stimme ist wieder hörbar. Sie erzählt die Geschichte ihrer Gefangenschaft, 2010 hat sie ihr Buch darüber publiziert. Im Dschungel warten weiterhin Hunderte an ihren Transistorradios darauf, dass jemand für sie spricht. Das Geiselradio sendet weiter.


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