Bayern 2 - Das Kalenderblatt


0

18. November 2002 Abriss in Berlin-Marzahn beginnt

"Kampf der Wohnungsnot" hieß es auf dem VIII. SED-Parteitag 1971 in der DDR, und so hoben die Planer die größte Großwohnsiedlung der DDR aus der Taufe - "die Platte" in Berlin Marzahn. Am 18. November 2002 kam die Abrissbirne.

Stand: 18.11.2011 | Archiv

18 November

Freitag, 18. November 2011

Autor(in): Thomas Grasberger

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Redaktion: Thomas Morawetz

Mit himmlischen Direktiven und göttlichen Eingebungen hat sich der real existierende Sozialismus bekanntlich immer schwer getan. Als gläubige Materialisten sangen die Genossen lieber inbrünstig ihre Internationale, in der es heißt: „Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!” Ganz in diesem Sinne dachten auch die DDR-Genossen auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971. Man war wild entschlossen, sich aus dem ökonomischen Elend zu erlösen, in das man sich höchstselbst hineinmanövriert hatte.

Alles Gute kommt von oben

Eine kleine Eingebung von oben konnte da bestimmt nicht schaden. Sie kam diesmal, nein, nicht wie gewöhnlich direkt aus Moskau, sondern von noch weiter oben, also fast schon von dort, wo man - wenn man nicht gerade ein materialistisch denkender Genosse ist - den lieben Gott vermuten könnte. Aber ER war´s dann doch nicht, der am Eröffnungstag des VIII. Parteitags zu den Delegierten sprach. Nein, die im Originalton übertragene Grußbotschaft kam von den Besatzungsmitgliedern der Saljut 1, also der ersten Raumstation in der Geschichte der Menschheit. Und die war keine Errungenschaft des Himmels, sondern der glorreichen Sowjetunion.

Ein passender Einstieg! Denn erstens wollte sich der oberste Genosse Honecker nach der Absetzung Walter Ulbrichts wirtschaftspolitisch wieder stärker am sowjetischen Vorbild orientieren: Rezentralisierung zwecks “Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes” - hieß das damals. Und zweitens sollte auf dem Parteitag ein Fünfjahresplan verabschiedet werden, der eine stärkere Betonung sozialpolitischer Aspekte vorsah. Und zwar vor allem des Wohnungsbaus. Da kamen warme Grußworte von einer Raumstation natürlich gerade recht, denn wer, wenn nicht die Genossen Kosmonauten, wüssten besser, was knapper Wohnraum bedeutet. Übrigens, nur 14 Tage nach der Grußbotschaft starben drei Kosmonauten, weil sie aus Platzgründen bei der Landung ihrer Sojus 11 keine Raumanzüge tragen konnten.

Lang lebe das Beton-Fertigteil!

Hoffentlich erfolgreicher sollte in der DDR die „Wohnungsfrage als soziales Problem” gelöst werden. Und zwar - so der Plan - bis zum Jahr 1990. In diesem Zusammenhang kamen die sozialistischen Planer auf die Idee, in Berlin rund um das ehemalige mittelalterliche Angerdorf Marzahn eine üppig durchgrünte Stadtlandschaft samt Großwohnsiedlung zu errichten. Die größte Großwohnsiedlung auf dem Gebiet der großen Deutschen Demokratischen Republik - es war die historische Stunde des Plattenbaus. “Lang lebe das Betonfertigteil!”, lautete also die Devise, die allerdings ein frommer Wunsch bleiben sollte. Ebenso wie die Lösung der Wohnungsfrage bis zum Jahr 1990. Denn in diesem Jahr löste sich bekanntlich nicht nur manches Fertigteil von den Neubauten in Großtafelbauweise, sondern am Ende die ganze DDR - und zwar auf! Ob das am fehlenden Beistand von oben lag?

Schließlich verglühte seinerzeit ja auch die letzte Saljut-Raumstation in der Erdatmosphäre! Was fortan von oben kam, hatte also weder mit himmlischen Direktiven noch mit kosmonautischen Heldengrußworten zu tun: Es war schlicht und einfach die schnöde Abrissbirne. Die begann am 18. November 2002 in Berlin-Marzahn ihr staubiges Werk.


0