Bayern 2 - Notizbuch


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Ausländerprogramm "Brüder in der Fremde"

Im November 1964 ging das Ausländerprogramm der ARD in sechs Sprachen auf Sendung – bis 2002 produziert von BR und WDR. Im Wirtschaftswunderland Deutschland sollte das Angebot den sogenannten „Gastarbeitern“ über Einsamkeit, Kulturschock und Sprachlosigkeit hinweg helfen. Vor allem die griechische BR-Sendung erreichte bald außergewöhnliche Hörerquoten und schrieb Radiogeschichte. Ein Rückblick zum Jahrestag.

Von: Eleni Torossi und Fanny Atheras

Stand: 01.11.2014 | Archiv

Drei Frauen, vier Männer vor Mikrophonen, historisches Bild von 1965 | Bild: BR/Sessner

München vor 50 Jahren: Eine kleine Gruppe von jungen Programmmachern bemühte sich die goldene Mitte zu finden: zwischen praktischen und einfachen Themen auf der einen und umfassender Berichterstattung über Politik, Wirtschaft und Kultur auf der anderen Seite. Außerdem sendete das griechische Programm jeden Abend einen fünfminütigen Deutschkurs. Die einfachen Menschen aus der griechischen Provinz fühlten sich ernstgenommen.

20 nach acht mitteleuropäischer Zeit

Der Redaktionsleiter mit seinen Mitarbeitern am Tisch beim Besprechen der Sendung.

Wie wichtig die vierzig Minuten in griechischer Sprache jeden Abend um 20.20 Uhr für die Griechen in Deutschland waren, beschreibt der griechische Schriftsteller Vassilis Vassilikos in seinem gleichnamigen Buch "20.20".

Schriftsteller Vassilis Vassilikos über die Sendung "20.20"

"Diese Radiostation, also unsere Sendung, nahm seltsam Platz in meinem Leben, hat es sogar abgestempelt. Seitdem ich sie entdeckt habe, eile ich jeden Abend in das Wohnheim, um die Sendung im Radio zu suchen, 20 nach acht Mitteleuropäische Zeit. Meistens schalte ich das Radio ab Zwanzig Uhr 15 ein, damit ich nicht eine Sekunde, nicht einen Bruchteil einer Sekunde verpasse, denn die Sendung und ich stehen in einer ungebrochenen - dämonischen, würde ich sagen -Beziehung zueinander: Sie gibt es für mich, genauso wie es mich … für sie gibt. … Manche Kommentare finde ich sehr gelungen, sie treffen direkt ins Herz des Arbeiters. … Und ich kann die Stimmen auseinander halten, vor allem die tiefen Stimmen, sie sind langsamer. Manchmal, vor allem bei Interviews, erschrecke ich mich durch die Geschwindigkeit, mit der sie in unserer Heimat ihr Griechisch herunterrattern. Als würden wir hier in der Fremde aus lauter Sorge, unsere Sprache zu verlieren sie auch langsamer sprechen. … Also was ich eigentlich sagen will ist, dass diese Sendung, ‚für die griechischen Arbeiternehmer in der Bundesrepublik Deutschland‘, die jeden Abend auf UKW gesendet wird, mir so unentbehrlich geworden ist, wie eben die BBC und die Deutsche Welle, … für einen Illegalen. Bin ich aber ein Illegaler? Ich arbeite doch, spaziere frei herum, esse, schlafe, … und ich verstecke mich vor niemandem. Also, was verbindet mich so eng mit dieser Sendung?"

Vassilis Vassilikos

Große Hörerbindung

Diese enge Bindung der Griechen an ihre griechische Radiosendung zeigte sich auch an den zahlreichen Briefen, die die Redaktion erhielt. Tagtäglich trafen zwanzig bis dreißig Briefe ein. Die Post des Bayerischen Rundfunks aber auch die Mitarbeiter, die diese ganzen Briefe öffnen und beantworten mussten, waren überfordert. Meistens lobten die Hörer die Sendung mit anrührenden Worten, und nannten die Sprecher, „Brüder in der Fremde“. Dann baten sie um praktische Ratschläge und Antworten auf ihre Fragen: "Was, wenn sich der Hauswirt beschwert", "wie konnte man Frau und Kinder nachkommen lassen", "wo könnten sie griechische Schulen und Lehrer finden", "wie kann man mit dem Chef in der Fabrik verhandeln"… und noch viele, viele weitere Fragen.

Konkurrenz via Satellit

Und diese enge Bindung zwischen Radiosendung und Hörer hielt fast bis zum Ende an, die Hörerquoten blieben für die Dauer von circa dreißig Jahren sehr hoch. Erst als Fernsehsendungen über Satellit die Heimat in die Wohnzimmer brachte, nahm die Treue der Radiohörer langsam ab. Ein Beispiel der engen Bindung ist der Brief einer Frau, die an die Überzeugungskraft der Sendung glaubte. Der Brief ist im Jahr 1975 geschrieben worden:

Aus dem Brief einer Hörerin

"Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Mut der Entrüstung gewappnet nehmen wir das seelenlose Papier in die Hände und öffnen die verletzten Herzen der Frauen - wenn nicht aller, dann doch der meisten. Seit Jahren quälen wir unsere Seelen, suchen nach einer Lösung. Leider sind unsere Bemühungen umsonst. Uns beschäftigt ein ziemlich großes Problem … Natürlich ist es nicht für alle so groß, aber wie wir weiter oben erwähnten, für viele von uns.
Wie wir alle wissen, sind wir in die Fremde gegangen, weil uns die trostlose Armut dazu gezwungen hat. Wir leben alle hier schon seit vielen Jahren, diese Jahre sind schwer zu ertragen. Unsere Entbehrungen sind zu viele. Einige sind von ihren Kindern, von ihren Familien und von ihren geliebten Personen getrennt. Und all dies um ein Stück Brot zu verdienen. Dies ist jedoch nicht genug, meine Lieben. Lassen Sie uns auf das Hauptthema zurückkehren, das uns seit Jahren quält. Das männliche Geschlecht hat sich so sehr zum Schlechteren gewandelt. Sie spielen zu viel Karten, zu viel Glücksspiele. Vielleicht finden Sie das Thema und unser Schreiben eigenartig, aber wir bitten Sie, wir finden nirgendwo anders eine Lösung. Deswegen wenden wir uns an den Radiosender. Möglich, dass wir nichts Gutes dabei tun, aber …
Der Brief soll vorgelesen werden, oder Sie sollen ihn in ihren Sendungen kommentieren, oder Ratschläge erteilen. Wir bitten Sie, denn das Thema ist sehr ernst."

Brief einer Hörerin

Natürlich blieb auch dieser Brief nicht unbeantwortet. Jeder Hörerbrief bekam eine schriftliche Antwort.

Hörer im Büro

Pavlos Bokojannis, die Sängerin Anna Kiriakou und Gerhard Bogner, damals Leiter der Ausländerprogramme, 1966

Doch mit den Jahren, vor allem in den 70er Jahren wurde die Bindung zwischen Hörer und Radiosendung so eng, dass Hörer wiederholt vor dem Eingang des Bayerischen Rundfunks standen, um die Sprecher und den Leiter der Sendung, Pavlos Bakojannis, kennenzulernen. Oft haben Sie die Pförtner überzeugt, dass sie wichtige Gründe hatten, um in die Redaktionsbüros zu kommen. Sie standen also auf einmal da, meistens mit einen Brief in der Hand, den sie persönlich abgeben wollten. Oft brachten sie die Ankündigung ihres Vereins für ein Fest oder eine Versammlung. Letzteres passierte vor allem während der Militärdiktatur.

Politische Berichterstattung

Die politischen Kommentare von Pavlos Bakojannis gegen die Militärdiktatur gefielen natürlich den Obristen in Griechenland nicht. Der griechische Botschafter in Bonn protestierte beim Intendanten des Bayerischen Rundfunks. Es war die Zeit des Kalten Krieges und man fürchtete sich vor kommunistischer Propaganda. Die Leitung der Rundfunkanstalt hat bald auch dafür eine Lösung gefunden, um zu beweisen, dass die Kommentare die demokratische Ordnung verteidigten.

In manchen Betrieben solidarisierte sich sogar die Leitung mit den Griechen, vor allem in der Zeit der Militärdiktatur und erlaubte ihnen in ihrer Schicht die Sendung zu hören.

Veranstaltungshinweis

Symposium: "Eine Radiosendung schreibt Geschichte"

Zum 50. Jahrestag des Ausländerprogramms der ARD veranstaltet das Interkulturelle Ressort ein Symposium, um an die legendäre Griechische Sendung zu erinnern. Am Freitag, 07.11. 2014, 17.30 Uhr im Veranstaltungssaal des BR-Funkhauses in der Arnulfstraße, München
Kontakt: interkulturelles@br.de

Sendeschluss 2002

Die Ausländerredaktion 2002 vor dem Aufnahmestudio | Bild: Privat

Kollegen aus der Ausländerredaktion kurz vor der Einstellung des Programmes 2002

Die deutschen Hörfunkanstalten hatten vielfach darüber diskutiert, ob und wann es an der Zeit wäre, diese Radiosendungen abzuschaffen. Die erste Gastarbeitergeneration müsste doch inzwischen Deutsch verstehen, deutsches Nachrichtenprogramm hören können. Außerdem waren auch die muttersprachlichen Satellitenprogramme aus der Heimat da. Ob die Ausländerprogramme in den Muttersprachen zur Integration der Menschen hier wirklich beitragen? Die Entscheidung gegen die muttersprachlichen Sendungen ist im neuen Jahrtausend gefallen. Nach vielen internen Gesprächsrunden hat die ARD den gemeinsamen Sendevertrag der Hörfunkanstalten gekündigt. Die muttersprachlichen Sendungen sind am 31. Dezember 2002 eingestellt worden.

Redaktionelle Leitung

Die Leitung des Ausländerprogramms hatte bis 1973 Gerhard Bogner, bis 1985 Walther Stelzle und ab 1985 Friedrich Gmeiner. Von 1997 bis 2002 war Dr. Ulrich Wagner-Grey Leiter der Redaktion. Zuständige Leiter der griechischen Sendung war bis 1974 Pavlos Bakojannis. Ihm folgten Kostas Petroyannis und Eleni Iliadou.


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