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Nach Europa Das Smartphone als Fluchthelfer

Dieser Fluchthelfer passt in die Hosentasche: Das Smartphone. Karten zeigen Grenzübergänge, Facebook hält Wetterberichte bereit und notfalls ist ein Schlepper nur eine WhatsApp-Nachricht entfernt. Und es gibt dort Gruppen wie “Flucht nach Europa ohne Schleuser”. Von Sammy Khamis

Von: Sammy Khamis

Stand: 11.09.2015 | Archiv

Screenshots Fluchthelfer Smartphone | Bild: Screenshots

Bassem ist mittlerweile in Deutschland. In einem kleinen Ort nahe Dresden. Vor gut zwei Wochen hat er sich in Damaskus auf den Weg gemacht. Er kam über die Balkanroute, er saß im “Train of Hope” und teilt sich heute ein Zimmer mit fünf anderen Menschen. Auf seiner gesamten Reise musste er nur einmal einen Schlepper bezahlen. “Das war von der Türkei nach Griechenland”, erinnert sich Bassem. 1.200 Dollar hat er bezahlt. Für dreieinhalb Stunden auf einem kleinen Schlauchboot. “Danach ging alles nur noch über das Smartphone. In Griechenland habe ich mir eine Sim-Karte gekauft und seitdem alles mit Google Maps recherchiert.” Grenzübergänge, Zugfahrpläne, Unterkünfte - “Ohne Smartphone hätte ich es nie bis nach Deutschland geschafft.”

Jetzt ist Bassem hier, und er kann telefonieren. Mit seiner Familie in Syrien, mit Freunden, die noch auf der Reise sind. “Aber das frisst meine Daten, Wlan gibt es hier in der Unterkunft immer noch nicht.” Dabei ist Internet für viele Flüchtlinge das erste, was sie brauchen, wenn sie ankommen. Um zuhause Bescheid geben zu können, dass alles okay ist. Um andere auf der Flucht vor gefährlichen Routen oder neppenden Schleppern zu warnen.

Flüchtlinge mit Smartphone, für viele “besorgte Bürger” sind diese Menschen dann “reiche Wirtschaftsflüchtlinge”, die keine Unterstützung, geschweige denn Asyl in Deutschland verdient haben. Denn sie hätten ja teure Handys, und “Deutsche Hartzkinder sehen verlotterter aus und besitzen auch kein Smartphone”, so formuliert es zumindest die islamophobe Hetzseite PI.

Smartphones können auf der Flucht Leben retten

Bei jeder Steckdose wird das Smartphone aufgeladen - es ist lebenswichtig.

Dabei sind Smartphones und Soziale Netzwerke für flüchtende Menschen heute zum absoluten Alltagsinstrument geworden, sie können auf der Flucht Leben retten. “Bei jeder Steckdose haben wir ein paar Stunden Pause gemacht, um unsere Handys wieder aufzuladen”, so Bassem. Und in jedem neuen Land kaufte er sich eine Sim-Karte.
Ein Verkäufer in einem Handyladen am Münchener Hauptbahnhof berichtet, dass “Flüchtlinge direkt vom Bahnsteig zu mir in den Laden kommen und nach einer Sim-Karte fragen”. Die ersten WhatsApp-Nachrichten gehen dann in der Regel an die Familie raus, berichtet auch der syrische Flüchtling und Zündfunk-Mitarbeiter Ameen Nasir. “Aber nicht nur das. Ich musste einem Gewährsmann Bescheid geben, dass er das Geld an den Schleuser ausbezahlt.”

Diversifiziertes Schleuser-Business

Das System mit einem Gewährsmann funktioniert folgendermaßen: Flüchtling und Schleuser einigen sich auf einen Preis für die Überfahrt. Ameen hat 2.000 Euro für die Fahrt von der Türkei nach Griechenland gezahlt. Das Geld hat er in einem neutralem Büro hinterlegt. Oft sind es Goldhändler oder Geldwechselbüros, die dann bis zu 15 Prozent des Geldes als Provision einbehalten. Der Mittelsmann darf den Schlepper erst ausbezahlen, wenn der Flüchtling ihm schreibt, dass er gut über die Grenze gekommen ist. Scheitert der Fluchtversuch bekommt der Schleuser kein Geld.

Dieses System zeigt, wie diversifiziert das Schleuser-Business mittlerweile ist und wie viel Einfluss der Geflüchtete selbst auf den Ablauf der Flucht hat. Man kann zwar eine komplette Reise buchen, etwa von Libyen bis nach Deutschland für bis zu 10.000 Euro. Dieses Paket beinhaltet gefälschte Pässe und ein First-Class Flugticket. Oder aber man reist in Abschnitten. Das ist anstrengender, weil jeder Abschnitt geplant werden muss, es ist aber auch erheblich günstiger.

Die Grafik zeigt, wie viel die gesamte Flucht im besten Fall kosten sollte.

Diese Grafik ist auf vielen Handys. Es zeigt wie viel die gesamte Reise im besten Fall kosten sollte. Städtenamen sind in Landessprache und auf Arabisch vermerkt. Wer dieser Grafik folgt und in diesen Abschnitten reist, kann unter Umständen ganz auf einen Schlepper verzichten. Bassem hat das im Sommer 2015 geschafft. Ameen Nasir aus Deir ez-Zoor nicht. Er war im Herbst 2014 in den Balkanstaaten. 400 Euro zahlte er, um über die mazedonisch-serbische Grenze zu kommen. Aber Ameen wurde in Serbien erwischt und festgenommen, nach Makedonien abgeschoben. Die Flucht war nicht erfolgreich. Das ungeschriebene Gesetz sieht vor: Sein Schlepper muss einen zweiten Versuch einfädeln. Der gelingt. Two for one, so könnte man das Geschäftsmodell umschreiben. Es zeigt auch, wie angepasst und verhandelbar der Wirtschaftsbereich Fluchthilfe wird. Auch die Schleuser müssen liefern. Einen großen Anteil daran haben Smartphones und das Internet.

Schleppen ist Business

Schlepper bewerben ihre Dienste auf Facebook

Seit rund einem Jahr bewerben Schlepper oder Fluchthelfer ihre Dienste auf Facebook. Manchmal betonen sie sehr wortreich die Brüderlichkeit unter Syrern. In der Regel geht es in diesen Gruppen sehr straight zu: Abfahrt, Ankunft, Bezahlung. Kinder bis neun Jahre zahlen die Hälfte. Schleppen ist Business. Fluchthilfe macht sich auch hier bezahlt. Ein Schlepper aus Libyen schreibt in einer persönlichen Nachricht: “Ich habe zwar Mitgefühl, vor allem mit den Syrern, sie sind Brüder und Schwestern für mich, aber im Endeffekt kann ich damit extrem viel Geld verdienen.” Und das macht er auch. Die Reise von der Türkei nach Italien kostet bei ihm 3.800 Dollar, aus Ägypten zahlt man 2.000 Dollar nach Italien [siehe Foto oben]. Pro Boot macht er einen Gewinn von rund 60.000 Euro.

Doch die Fluchtrouten ändern sich, werden angepasst, Libyen wird immer unattraktiver. Es ist zu gefährlich und dauert manchmal zehn Tage. Fluchtwege sind nicht nur von der Durchlässigkeit von Grenzen abhängig, sondern variieren auch mit Angebot und Nachfrage. Derzeit leben rund zwei Millionen Syrer in der Türkei. Dort ist also der Markt aktuell am lukrativsten. “In Izmir sind die Straßen voll mit Schleusern”, bezeugen sowohl Bassem als auch Ameen. Und auf Facebook wird deutlich, wie groß die Nachfrage in der türkischen Küstenstadt ist. Mehrere Schleuser posten: “Jeden Tag fahren Boote von Izmir ab. 1.200 Dollar. Einfach per WhatsApp und Viper bei mir melden.”

Der Migrationsforscher Frank Laczko beobachtet die Auswirkungen von Smartphones auf Fluchtbewegungen. Er sagte dem Bayerischen Rundfunk: “Das Internet bietet den Flüchtlinge immens viele Vorteile. Aber es birgt auch Gefahren: Kriminelle Schlepper verwenden soziale Medien mit irreführenden Versprechungen.”

Austausch in Gruppen wie “Europa ohne Schmuggler”

Die verschiedenen Fluchtrouten: Refugees können vergleichen

Mittlerweile sinken die Preise auf manchen Routen. Ameen, der 2014 geflüchtet ist, musste insgesamt 6.000 Euro zahlen, bei Bassem, der ein Jahr später unterwegs war, waren es rund 2.000 Euro. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die meisten wohlhabenden Flüchtlinge bereits ausgereist sind und vom den Rest nicht so viel Geld abzuschöpfen ist. Und damit, dass sich die Angebotspalette an Angeboten erweitert hat: Flüchtlinge haben über ihre Smartphones alle wichtigen Infos und können vergleichen.

Auf Facebook haben sich inzwischen Gruppen gegründet mit Namen wie: “Flucht nach Europa ohne Schleuser” oder einfach “Europa ohne Schmuggler”. In diesen Gruppen tauschen sich Flüchtlinge über die besten Grenzübergänge oder Polizeikontrollen aus.

Schleuser warnt vor schlechtem Wetter an der libyschen Küste

“Die meisten, die von hier Boote losschicken sind Kriminelle”, berichtet ein junger Mann, der nicht genannt werden will. Er ist Syrer und seit einem Jahr in Ägypten. Gemeinsam mit Freunden und anderen palästinensischen Flüchtlingen hat er sich selbst ein Boot besorgt, um sich auf den Weg nach Europa zu machen. Auch er orientiert sich an Posts in den Facebook-Gruppen “Nach Europa ohne Schlepper”. Wetterkarten und Strömungsverläufe sind dort eingetragen. “Das macht die Reise nicht sicherer, aber wir wollen das Land verlassen”, so der junge Mann aus Aleppo.

Facebook – Marktplatz und Austauschplattform

Eine Check-Liste für Bootsflüchtlinge

Facebook ist zum Marktplatz krimineller Schleuser und Geschäftemacher geworden, wie man sie sonst eher aus dem Deep Web kennt. Aber es ist eben auch ein Ort, an dem sich Flüchtende austauchen, um einigermaßen sicher, ohne Umwege und für wenig Geld nach Europa zu kommen. Hier ein letztes Beispiel: Eine Lange Check-Liste, die Bootsflüchtlinge durchgehen sollen, bevor sie in ein Boot steigen. Aufgeführt unter anderem: “Kauft Schwimmwesten, versichert Euch, dass genug Benzin im Motor ist, versucht in der Mitte des Bootes zu sitzen.”

Das Smartphone - Regulativ für die Schleuser-Industrie

Facebook und Smartphones sind zu einem Regulativ für die Schleuser-Industrie geworden, es emanzipiert die Flüchtenden ein wenig von den Schleppern und staatlichen Autoritäten, denen sie sonst hilflos ausgeliefert sind. Flüchtlinge in Ungarn haben beispielsweise über GPS nachgeforscht, ob die Busse, die sie Richtung österreichische Grenzen bringen sollten, wirklich den richtigen Weg nehmen. Die Preise für die Flucht fallen, die Routen und Überfahrten werden transparenter und zumindest ein bisschen sicherer.

Das Smartphone ist für Flüchtlinge mehr als nur eine Möglichkeit mit alten Freunden in der Heimat zu kommunizieren, es ist ein Stück Selbstermächtigung auf dem Weg in ein neues Leben.


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