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Edgar Reitz zum 80. Pionier aus dem Hunsrück

Lange vor der Schwemme neuer Filme über Heimat hat Edgar Reitz den Begriff vom Blut-und-Boden-Satz der NS-Zeit und vom Unterhaltungszucker der 50er-Jahre entgiftet. Am 1. November 2012 wurde der in München lebende Regisseur 80 Jahre alt.

Von: Ernst Eisenbichler

Stand: 01.11.2012 | Archiv

Edgar Reitz 2012 | Bild: dapd / Harald Tittel

1976 bekam Reitz für seinen Film "Stunde Null", der die kurze Zeitspanne 1945 zwischen Waffenstillstand und Kriegsende in einem kleinen Ort schildert, noch den Grimme-Preis. Zwei Jahre später hatte er erstmal genug vom Filmschaffen, nach dem Debakel mit "Der Schneider von Ulm". Wie der Held dieses Werkes, der Flugpionier Albrecht Ludwig Berblinger, stürzte Reitz mit seinem Projekt ab - in der Publikumsgunst und auch finanziell. Enttäuscht und verärgert zog er sich zurück. Sechs Jahre später stieg er wie Phönix aus der Asche: mit "Heimat", dem Beginn seines Lebenswerks, das immer noch nicht abgeschlossen ist.

"Ich drehe diesen Film, solange ich lebe."

Edgar Reitz über 'Heimat'

Mit dem Epos erlebte er 1984 nicht nur einen Triumph bei der Biennale in Venedig, sondern hatte auch traumhafte Einschaltquoten. Durchschnittlich zehn Millionen Zuschauer sahen die elf in der ARD ausgestrahlten Folgen, die deutsche Fernsehgeschichte schrieben. Mit dem Erfolg war nicht unbedingt zu rechnen, schließlich benötigt man für die knapp 16 Stunden "Heimat - eine deutsche Chronik" einen langen Atem. Reitz entwirft eine minutiöse, über mehr als sechs Jahrzehnte (1919-1982) reichende Dorfsaga des fiktiven Ortes Schabbach im Hunsrück.

"Es geht mir darum, Fiktion mit Geschichte zu vermischen - auf eine Weise, die gerade noch zulässig ist."

Edgar Reitz

Reitz 2004 auf der Frankfurter Buchmesse

Das Mammutwerk zeigt deutsche Vergangenheit aus der Provinz, aus der Heimat von Reitz, der 1932 in Morbach im Hunsrück geboren wurde. Obwohl der Regisseur, der in den 60er-Jahren mit Dokumentar- und Industriefilmen angefangen hatte, sehr auf Detailgenauigkeit achtet, wirkt "Heimat" nicht wie ein abgefilmtes Archiv. Reitz' Heimat ist eine imaginierte, nicht alles muss historisch belegbar sein. Viel wichtiger ist ihm die Wahrhaftigkeit seiner Arbeiten.

"Was ist wirklich, was ist wahr? Für mich sind die erfundenen Geschichten genauso wirklich wie die Vergangenheit."

Edgar Reitz

"Heimat" ist bei Reitz kein Ort mehr, der eine Garantie für Identitätsstiftung abgeben kann, sondern eine kollektive Erinnerung. Eine Rekonstruktion, aber keine Restauration.

"Jeder, der sich erinnert, lügt. Unser Gedächtnis ist ein Scherbenhaufen, aus dem wir das Leben neu bauen, eine Story ordnen. Der Film vollzieht das nach, er hat dieselbe Methode. Was ist Realität? Ich wage zu bezweifeln, dass es sie gibt. In diesem Punkt bin ich vielleicht Romantiker geblieben."

Edgar Reitz

2004

Reitz ließ sich ebensowenig verbiegen wie seine Kollegen Rainer Werner Fassbinder und Alexander Kluge. Mit letzterem und weiteren Autorenfilmern initiierte Reitz 1962 das legendäre Oberhausener Manifest, das sich unter anderem gegen den konventionellen Heimatfilm richtete. Kluge war einer von Reitz' wichtigsten Weggefährten. Gemeinsam realisierten sie die experimentellen Essay-Filme "Abschied von gestern" (1966) oder "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod" (1974). Gemeinsam gründeten sie 1963 das Insititut für Filmgestaltung an der Ulmer Hochschule für Gestaltung, der einstigen Akademie, an der die damals wichtigsten Intellektuellen wie etwa Hans Magnus Enzensberger lehrten.

"Im Gegenwartskino ist Edgar Reitz längst zu einer singulären Erscheinung geworden. Während sich viele Filmemacher seiner Generation auf sichere Posten zurückgezogen haben, begibt er sich als Autor und Regisseur immer noch gern ins Offene."

Hans Günther Pflaum, Filmkritiker

Szene aus "Heimat 3": Henry Arnold als Hermann Simon ("Hermännsche") und Salome Kammer als Clarissa Lichtblau

1993 sendete die ARD die Fortsetzung der Familienchronik: "Die zweite Heimat - Chronik einer Jugend". Die 13-teilige Serie führt eine der Hauptfiguren, das "Hermännsche", als Musikstudent ins München der 60er-Jahre. Eine biografische Parallele zu Reitz, der 1952 ebenfalls nach München ging, um dort Theaterwissenschaft sowie Germanistik zu studieren und anschließend das Filmhandwerk professionell zu erlernen. Doch "Die zweite Heimat" floppte beim deutschen Publikum, international dagegen erfuhr sie enorme Resonanz. 2004 folgte der dritte Teil der Trilogie, "Heimat 3 - Chronik einer Zeitenwende", eine sechsteilige Staffel zum Thema Heimat in einer globalisierten Welt vom Mauerfall bis zur Jahrtausendwende. Schabbach lässt Reitz bis heute nicht los: 2012 drehte er einen Spiel- und einen Dokumentarfilm über die Auswanderer aus dem Hunsrück nach Brasilien.

"Eine Geschichte ist nur dann das Richtige für mich, wenn sie außer mir keiner machen könnte."

Edgar Reitz

Filmografie
JahrTitel
1959Kommunikation (Experimentalfilm)
1960Yucatan (Dokumentarfilm)
1960Baumwolle (Industrie-Dokumentarfilm)
1962Geschwindigkeit (Kurzfilm)
1964Binnenschiffahrt (Industriefilm)
1965Unendliche Fahrt - aber begrenzt (Experimentalfilm)
1965VariaVision, ein filmisches Perpetuum Mobile
1966Die Kinder (Kurzfilm)
1967Mahlzeiten (Spielfilm)
1967Fußnoten (experimenteller Spielfilm)
1968Filmstunde (Dokumentarfilm)
1969Cardillac (Spielfilm)
1970Uxmal (Dokumentar-Spielfilm)
1970Geschichten vom Kübelkind
1971Das goldene Ding (Spielfilm)
1972Kino Zwei (Fernsehfilm)
1973Die Reise nach Wien (Spielfilm)
1974In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (Dokumentarfilm)
1977Stunde Null (Spielfilm)
1978Deutschland im Herbst - Episode Grenzstation (Spielfilm)
1978Der Schneider von Ulm (Spielfilm)
1979Susanne tanzt (Dokumentarfilm)
1984Heimat - Eine deutsche Chronik
1992Die zweite Heimat - Chronik einer Jugend
1994Die Nacht der Regisseure (Dokumentarfilm)
2004Heimat 3 - Chronik einer Zeitenwende
2007Ortswechsel. Ein Multimedia-Projekt

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