BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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Ein komplexes Thema ... Kulturelle Aneignung

Seit über einem Jahr gibt es ein Thema, das für kontroverse Diskussionen sorgt: Kulturelle Aneignung. Ursprung der Diskussion war das Musikdolmetschen. Doch eigentlich ist das Thema viel komplexer. Sehen-statt-Hören-Moderatorin Anke Klingemann hat versucht, mehr Klarheit zu bekommen.

Von: Holger Ruppert (Film), Claudia Erl (Online-Text)

Stand: 02.01.2020

Es beginnt vor einem guten Jahr: Eine (Musik-)Dolmetscherin etabliert sich sehr erfolgreich auf eine Art und Weise, die vielen Gehörlosen nicht gefällt. Die Kritik: Die Gebärdensprache und Kultur gehört den Gehörlosen und nicht den Hörenden. Die haben die schöne Gebärdensprache einer Minderheit für sich entdeckt und verbreiten sie jetzt unter sich, spielen sich in den Vordergrund und missachten dabei Gehörlose komplett. Und das wird als "kulturelle Aneignung" empfunden.

Anke Klingemann

Doch es ist mehr als das: das Thema ist komplex und in der Diskussion werden längst unterschiedliche Themen und Perspektiven vermischt. Sehen-statt-Hören-Moderatorin Anke Klingemann hat versucht, mehr Klarheit zu bekommen: Im letzten Jahr traf sie sich mit verschiedenen Personen, um Antworten zu bekommen und sich ein eigenes Bild zu machen.

Was ist "kulturelle Aneignung“ eigentlich?

Viviane Grünberger

Viviane Grünberger hat Deaf Studies studiert und ihre Bachelorarbeit zum Thema "kulturelle Aneignung“ geschrieben. Beim Jugendfestival 4 in München hielt sie einen Vortrag und Anke Klingemann hat sie zum Gespräch getroffen.

3 Fragen an Viviane Grünberger

Wie definiert man "kulturelle Aneignung“ und was sind die Kernpunkte dabei?

Viviane Grünberger: "Kulturelle Aneignung meint, dass die Mehrheitsgesellschaft immer die dominante Kultur darstellt, wobei die Minderheit täglich mit Barrieren zu kämpfen hat und benachteiligt wird. Die Minderheit entwickelt aber auch eine eigene Kultur, z.B. im Bereich der Kunst […]. Währenddessen die Minderheit versucht, ihre eigene Kultur weiterzuentwickeln, interessiert sich die Mehrheit dafür und bedient sich einfach dieser Kultur […], dass Kulturen ausgebeutet werden."

In welchen Bereichen passiert "kulturelle Aneignung“ in der Gehörlosengemeinschaft ganz konkret?

Viviane Grünberger: "Bei meiner Forschung habe ich zwei Bereiche beleuchtet. Zum einen den Bereich des Musikdolmetschens […] und zum anderen den Bereich Film und Fernsehen, wo auch häufig das Thema „Gehörlosigkeit und Gebärdensprache“ aufgegriffen wird. Und wenn es dann um die Rollenbesetzung geht, sind es Hörende, die einfach ein bisschen Gebärden lernen – mehr schlecht als recht – und dann eine gehörlose Person spielen. […] ohne jeglichen kulturellen Hintergrund und der vollen Kompetenz in der Gebärdensprache. […] Beim Musikdolmetschen ist für mich interessant, dass es verschiedene Perspektiven gibt. Es gibt die Frage, warum nicht gehörlose Performer eingesetzt werden? Oder die Frage, wer hat die Macht, wer hat das Netzwerk? Meistens sind es Hörende, die einen einfacheren Zugang zu entsprechenden Netzwerken haben. Für Gehörlose ist es schwierig. […]"

Zu welchem Ergebnis und welcher Aussage bist Du bei Deiner Bachelorarbeit gekommen?

Viviane Grünberger: "Als Ergebnis konnte ich nicht eindeutig sagen: Das macht ‚kulturelle Aneignung‘ aus. Es braucht noch mehr Forschung. Es braucht mehr Austausch zwischen Hörenden und Gehörlosen, auch innerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft – egal ob man hört oder nicht. […] Auch das Wissen über die eigenen Machtpositionen ist von Bedeutung. Hörende müssen Kenntnisse über ihre Privilegien haben. Darüber hinaus gibt es in der Gesellschaft ein System von Audismus. Das zu berücksichtigen, ist auch wichtig. Deshalb dürfen Gehörlose und Hörende nicht getrennt voneinander darüber reden. Sie müssen das gemeinsamen tun. […]"

Von Respekt und Macht

Stefan Goldschmidt hat Soziologie und Gebärdensprache studiert und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Gebärdensprache. Er unterrichtet in den Studiengängen Deutsche Gebärdensprache und Gebärdensprachdolmetschen – und sieht "kulturelle Aneignung“ eher als Respekt- und Macht-Problem Einzelner.

"Es geht nicht um das Miteinander, sondern die Person will sich alleine nach vorne stellen. Machtverhältnisse, Respekt und Privilegien spielen eine Rolle. Hörende haben gegenüber Gehörlosen immer bestimmte Privilegien und stellt sie besser, da sie die Gebärdensprache und die Lautsprache können. Man muss reflektieren, warum diejenige Person so agiert [...]."

Stefan Goldschmidt

Doch längst nicht allen Hörenden, die die Gebärdensprache erlernen, würde er "kulturelle Aneignung“ attestieren. Es gäbe nur vereinzelt "Schwarze Schafe“, es käme definitiv auf die einzelnen Personen an.

"Gehörlosen ist bisher vieles verwehrt worden. Das war viele Jahre so. Nun endlich haben sie mit Hörenden die Möglichkeit, zusammen etwas zu gestalten. Es geht um das Wie […]. Wenn beide Seiten offen sind, Transparenz zeigen, im Austausch sind und zusammenarbeiten, dann kann das zum Erfolg führen. Sieht das jemand aber eher skeptisch und ist nur auf sich bedacht, dann ist es wohl ein persönliches Problem. […] Grundsätzlich ist das Wichtigste die Einstellung. Wenn man eine positive Haltung hat […] sich für die Sache stark macht, dann ist man Willkommen. Ist aber nur Raffsucht zu sehen, dann wollen wir das nicht. Das kommt vor und ist normal und menschlich. Aber diese Unterdrückung hatten wir lang genug[…]."

Stefan Goldschmidt

Zusammenarbeit scheint der Schlüssel zum Erfolg zu sein.

Von Überheblichkeit und Bereicherung

Paddy Ladd aus England hat lange Zeit an der Universität Bristol und dem Center for Deaf Studies gelehrt, gearbeitet und geforscht – und einen tiefen Einblick in dieses Thema. Er sieht das Thema "Kulturelle Aneignung“ sehr kritisch.

"Früher hat man Gehörlose unterdrückt und sie nicht gewähren lassen. Nun herrscht bei Hörenden gegenüber der Gebärdensprache diese unglaubliche Faszination. […] Dolmetscher stehen auf der Bühne und Hörende huldigen sie und über die Medien wird das so verbreitet […]. Es macht den Anschein, dass die dolmetschende Person den Gehörlosen ja nur helfen will, um Inklusion zu ermöglichen. Da dreht sich mir der Magen um, und ich fühle mich in die Vergangenheit zurückversetzt. […] Geht es nur darum, sich die Taschen voll zu machen und damit Geld zu verdienen? Mit der Kultur und der Sprache der Gemeinschaft, von der sie selbst gelernt hat und sich dann weiterentwickeln konnte, ohne die Verbindung zur Gemeinschaft zu halten."

Paddy Ladd

Paddy Ladd erlebt auch in England bei manchen seiner Studenten nach Ende der Ausbildung eine gewisse Überheblichkeit. Deshalb hält er es für besonders wichtig, während der Ausbildung bei den Studenten ein Bewusstsein für "kulturelle Aneignung“ zu schaffen. Der Engländer geht sogar noch einen Schritt weiter und plädiert dafür, dass ein Teil ihres Verdienstes an die Gehörlosengemeinschaft zurückgegeben werden sollte.

Positives Bild und mehr Sicherheit

Wiebke Gericke ist hörend, hat Deutsche Gebärdensprache studiert und kennt sich mit der Gehörlosenkultur seit vielen Jahren bestens aus. Sie hat "Baby-Gebärdensprachkurse“ ins Leben gerufen – die von manchen als "kulturelle Aneignung“ gesehen werden. Doch Wiebke Gericke wollte und will nur Gutes: Das damals in ihren Anfangszeiten negative Bild der Gebärdensprache in ein positives zu verwandeln, den Eltern gehörloser Babys Sicherheit geben – und in der Kommunikation mit ihren Kindern zu stärken.

"Ich habe den Vorteil gesehen, dass ich durch die Vermittlung der Gebärden bei den hörenden Kindern viel erreichen kann. Mein Eindruck ist, dass sie viel leichter und ein positiveres Bild von der Gebärdensprache bekommen haben […]."

Wiebke Gericke

Eine Person wie Wiebke Gericke ist für die Gehörlosengemeinschaft also sehr wertvoll. Sie ist Botschafterin, die vermittelt, aufklärt gegenüber der Gesellschaft und für ein positives Bild sorgt. Es ist eben eine Frage der Haltung, ob man sich als Hörende positiv zur Gehörlosengemeinschaft bekennt oder sich in den Vordergrund drängt.

Vertrauen und Rollenwandel

Christiane Schuller

Und was ist mit den Dolmetschern? Christiane Schuller dolmetscht schon seit über 25 Jahren – und plädiert für Vertrauen zwischen Gehörlosen und Dolmetschern.

3 Fragen an Christiane Schuller

Wie geht es dir als Dolmetscherin? Hast du tatsächlich das Gefühl von Macht?

Christiane Schuller: "[…] Ich weiß, welches Bild Gehörlose von Dolmetschern haben, wenn es um Macht geht. Auf der anderen Seite haben wir Dolmetscher nicht das Gefühl von Macht. Wir wissen aber sehr wohl, dass es Situationen gibt, in denen es von Bedeutung ist: Wenn sich also Gehörlose und Hörende begegnen, bin ich als Dolmetscherin die einzige Person, die sowohl gebärden als auch sprechen kann. Ich habe dann die Macht für die Steuerung der Situation. Das muss ich im Hinterkopf behalten. Wichtig ist hierbei, dass ich die Verantwortung habe, mit der Macht und der Steuerung richtig umzugehen. […] Aber von Macht im Sinne des Ausnutzens, dass ich den Vorteil genieße, dass die gehörlose Person von mir abhängig ist, kann ich nicht sprechen. Ich denke es ist wichtig, sich zu vertrauen. Und das fehlt im Moment.“

Wenn die Basis des Vertrauens oder Transparenz fehlt, sollte man doch die Möglichkeit der Zusammenarbeit zum Beispiel mit den Gehörlosenverbänden in Betracht ziehen, damit beide Seiten wieder zueinander finden?

Christiane Schuller: "[…] Es gibt zum Beispiel in Bayern den Austausch zwischen dem Landesverband der Gehörlosen und dem Dolmetscherverband. Aber mein Gefühl ist, dass der Austausch zwischen Verbänden keine Auswirkungen auf Gehörlose hat. Davon ist nichts zu spüren. […] Viel wichtiger ist der persönliche Kontakt, z.B. bei Veranstaltungen, dass man in den persönlichen Austausch geht und dabei mehr vom Anderen erfährt. So können auch Dolmetscher die Schwierigkeiten von Gehörlosen besser nachvollziehen und gemeinsam Lösungen finden. Ich denke, da ist der persönliche Kontakt eher hilfreich als der Austausch auf Verbandsebene.“

Das Rollenverständnis des Dolmetschers hat sich über die Zeit auch sehr verändert. Was bedeutet Dolmetschen für Dich?

Christiane Schuller: "In der Tat hat sich vor allem in den letzten 20 Jahren das Bild sehr gewandelt. Anfangs herrschte das Bild vom Dolmetscher als helfende Person. […] Zwischenzeitlich gab es die Vorstellung vom Dolmetscher als neutrale Person, die nur zwischen den Sprachen vermittelt und nicht mehr. […] Jetzt ist es so, dass der Dolmetscher Teil einer Interaktion ist. Die dolmetschende Person ist also ein Interaktionspartner. [… ]. Es ist ein fließender Prozess, bei dem immer wieder Neues ausprobiert wurde […] Wichtig ist, sich mit den neuesten Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen. Und ich bin ehrlich gesagt froh, dass es im Moment das neueste Modell gibt. Das gefällt mir sehr gut. […]“

Hat sich also die Gehörlosengemeinschaft vielleicht nicht genügend mit dem Thema Dolmetschen beschäftigt – und die Weiterentwicklung des Berufsbildes verpasst? Die Erwartungshaltungen unter den Gehörlosen sind diesbezüglich sehr unterschiedlich. Und auch daraus ergeben sich Spannungen und Enttäuschungen.

Lücke in der Kontrolle

Stellt sich die Frage, ob die Ausbildungsstätten gut auf die Rolle des Dolmetschers vorbereitet sind. In der Fachhochschule Landshut hat Anke Klingemann Prof. Dr. Sabine Fries getroffen, die hier den Studiengang Gebärdensprachdolmetschen leitet. Auch sie sieht die Veränderung im Rollenverständnis beim Beruf des Gebärdensprachdolmetschers. Ein großes Problem zeigt sich in der Zeit nach der Ausbildung. Hier gibt es keine Gewissheit über die Weiterentwicklung und Einstellung von Dolmetschern. Und wer kontrolliert, dass sich Dolmetscher entsprechend weiterbilden. Hier gibt es eine große Lücke.

"Wenn die Studenten hier fertig sind, verlassen sie die Hochschule und sind erst einmal weg. Wir haben dann keine Verbindung mehr zu ihnen. Das heißt, wir wissen nicht, was sie dann machen. Das ist das Problem. Nicht nur die Ausbildungsstätte, sondern auch die Gehörlosengemeinschaft weiß dann nichts über die weitere Entwicklung von Dolmetschern. Ob sie zum Beispiel Weiterbildungen besuchen? Wer soll das machen? Wer ist bereit dazu? Wer kontrolliert das? Das fehlt einfach."

Prof. Dr. Sabine Fries

"Deaf Performance Now“ übt große Kritik

Vor allem "Musik-Dolmetscher“ sind in den Fokus der Kritik von "Deaf Performance Now“ geraten. Die Gruppe kritisiert vehement, wenn hörende Dolmetscher auf der Bühne Musik dolmetschen. Die Agentur der Dolmetscherinnen war aufgrund dieser massiven Kritik ratlos und hat sich an den Deutschen Gehörlosen-Bund (DGB) gewandt. Die Vizepräsidentin des DGB, Elisabeth Kaufmann, hat sich der Sache angenommen und eine Gesprächsrunde initiiert. Teilgenommen haben der Berufsverband der Gebärdensprachdolmetscher, der Verband der Tauben Gebärdensprachdolmetscher, Deaf Performance Now, der Deutsche Gehörlosen-Bund, die Musikdolmetscherinnen und deren Agentur. Mittlerweile gab es eine zweite große Gesprächsrunde, die über Stunden gesprochen hat. Lösung? Gibt es noch keine. Aber Ansätze…

"Es gab heiße Diskussionen und verschiedene Meinungen. Das war sehr kontrovers. Es ist aber nicht so, dass jetzt alles beendet und alles gelöst ist und nun besser wird. Es gibt noch viele offene Frage und viel zu tun. Wichtig ist erst einmal, dass die Seite der Hörenden, also die Agentur und die hörenden Dolmetscherinnen, mit Gehörlosen zusammenarbeiten. Das heißt, wir haben alle Beteiligten ins Boot geholt und werden nun versuchen, zukünftig gemeinsam an dem Thema zu arbeiten."

Elisabeth Kaufmann

Das Fazit

All das ist schon mal ein guter Anfang. Doch es gibt auch in anderen Bereichen einen großen Bedarf für Austausch. Und das soll nicht nur auf oberster Ebene geschehen. Um voranzukommen, ist das Wichtigste die Zusammenarbeit.


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