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Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung EUTB-Beratungsstellen vor dem Aus?

Ab 2018 wurden innerhalb kurzer Zeit zahlreiche EUTB-Beratungsstellen eingerichtet und über Fördermittel zunächst bis Ende 2022 abgesichert. Für den Zeitraum ab 2023 mussten neue Förderanträge gestellt werden. Nun stellt sich heraus, dass über 50% der Anträge auf Fortführung der EUTB für gehörlose Menschen vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales abgelehnt wurden. Diese EUTB-Beratungsstellen werden bis Ende 2022 schließen müssen.

Von: Thomas Zander

Stand: 17.11.2022

Menschen mit Behinderung sollen ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können – so lautet die Zielsetzung des 2017 in Kraft getretenen Bundesteilhabegesetzes, abgekürzt BTHG. Ein wichtiger Aspekt, dieses Ziel zu verwirklichen, waren die sogenannten EUTB- Beratungsstellen, die im Januar 2018 eingerichtet wurden. EUTB steht für Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung. Die wichtigen Grundgedanken dieser Beratungsstellen: Die Unterstützungsleistungen für behinderte Menschen sollen zum einen zentral an einer Stelle gebündelt werden – "Eine für Alle" und zum anderen soll die Beratung von Betroffenen für Betroffene stattfinden. "Peer-To-Peer-Counseling" nennt man das.

Über die Hälfte der Förderanträge abgelehnt

Diese Idee ist sehr positiv aufgenommen worden und so sind innerhalb kürzester Zeit viele EUTB-Stellen in ganz Deutschland eingerichtet worden. Über Fördermittel waren sie bis Ende 2022 abgesichert. Darunter sind auch Beratungsstellen für Gehörlose, blinde und taubblinde Menschen. Für den Zeitraum ab 2023 mussten nun neue Förderanträge gestellt werden. Eine Studie der SignGes der RWTH Aachen hat herausgefunden, dass über 50 Prozent dieser Anträge auf Fortführung vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales abgelehnt worden sind. Diese Beratungsstellen für gehörlose Menschen werden zum Jahresende schließen müssen.

Ein Schock für die Einrichtungen

Für die Einrichtungen und die betroffenen Menschen ist das ein Schock – denn das war nicht vorhersehbar. So wie für die EUTB-Beratungsstelle in Köln.

"Wir haben 2017 angefangen mit dieser Idee der Peer-To-Peer Beratung - das war super. Zu all den offenen Fragen haben wir Netzwerke gegründet und Experten herangezogen. Wir haben uns in den vier Jahren so viel Expertise erarbeitet zum Beispiel in Hinblick auf das Persönliche Budget, dass Dolmetschen im privaten Bereich finanziert wird und gehörlose Menschen mehr und mehr das bekommen, was sie brauchen. Wir haben so dazugelernt! Hier in Köln war vor allem das EUTB Netzwerk echt spitze, die Zusammenarbeit mit den Kommunen der Stadt Köln, mit dem Jobcenter, der Agentur für Arbeit und noch so vielen mehr. Und jetzt? Soll damit einfach Schluss sein?"

Christine Linnartz, Leitung der EUTB DeafGuideDeaf

In Köln werden schon die Kisten gepackt, doch man hat Widerspruch gegen die Schließung eingelegt.

Große Sorge um die Menschen

Die EUTB-Beratungsstelle in Potsdam

Das gleiche Bild in Potsdam: Hier gibt es die einzige EUTB-Beratungsstelle in ganz Brandenburg, in der gehörlose Beraterinnen und Berater arbeiten. Hierhin kommen viele gehörlose Menschen, auch mit Migrationshintergrund. "Es kommen aber auch Rollstuhlfahrende, Eltern gehörloser Kinder, die Beratung zur Antragstellung brauchen, z.B. für Kommunikationsförderung oder Hausgebärdensprachkurse. Wir arbeiten nach dem Beratungskonzept ‚Eine für Alle", erklärt Katja Werlich, die in Potsdam berät. Auch diese Einrichtung wird Ende des Jahres geschlossen.

Katja Werlich macht sich große Sorgen um die Menschen mit Migrationshintergrund: Sie könnten laut ihrer Aussage oft keine DGS und behelfen sich mit Gesten oder International Sign. "Ob Dolmetscherinnen oder hörende Berater das leisten können? Schwierig. Hier fühlen sie sich wohl, weil die Verständigung klappt."

Die Ablehnungsgründe

Aber wie kann es sein, dass so ein wichtiges Beratungsangebot in dieser Form nicht weiter zur Verfügung gestellt wird? In Wolfenbüttel darf Sehen statt Hören-Moderator Thomas Zander bei EUTB-Leiter Thomas Sodemann einen Blick in den Ablehnungsbescheid werfen. Ablehnungsbegründung: "Die beantragte Region wies ein regionales Überangebot im Sinne des § 3 Absatz III EUTBV aus." Für Thomas Sodemann nicht nachvollziehbar. "Wir arbeiten flächendeckend, der Bedarf ist da. Es kommen neben den vielen gehörlosen Menschen aus der Region auch Personen mit anderen Behinderungsarten, zum Beispiel Rollstuhlfahrer, Hörende mit Behinderung, Eltern gehörloser Kinder, Eltern mit kognitiven Einschränkungen und so weiter", betont er. Bis nach Goslar erstrecke sich ihr Einzugsgebiet. Seine beiden Mitarbeiter sind Peers. Alles passt zu den Anforderungen. Und dennoch wurde die Weiterführung dieser EUTB-Stelle vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) abgelehnt.

"Wie ich mich fühle? Ich bin absolut erschüttert, total deprimiert und enttäuscht. Wir haben in den vergangenen fünf Jahren so viel reingesteckt. Seit 2017 läuft das Projekt mit Projektleitung hier richtig gut. Ich hätte mir gut vorstellen können, die Beratung noch die nächsten sieben Jahre fortzuführen. Und jetzt sowas. Dass man so mit uns umgeht, das empfinde ich als Diskriminierung hörgeschädigter Menschen. Ohne jegliche Prüfung, das ist voll diskriminierend."

Thomas Sodemann

Die EUTB Beratungsstellen – heute und ab 2023

·      Bis Ende 2022 gibt es insgesamt 763 EUTB Beratungsstellen in Deutschland.
·      Ab 2023 wird es nur noch 425 geben.
·      Bis Ende 2022 gibt es 35 Personen, die in DGS beraten können. Von diesen 35 Personen gab es 8, die auch Taubblinde beraten konnten.
·      Ab 2023 wird es von den 35 Personen nur noch 17 oder 18 Personen geben, die in DGS beraten können und nur noch 4, die Taubblinde beraten können. Dabei handelt es sich aber nicht um volle Stellen, sondern Teilzeitstellen. 

Barrierefreiheit künftig nicht mehr gegeben

Dr. Klaudia Grote, Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums für SignGes, RWTH Aachen, im Online-Gespräch

Die Studie des Kompetenzzentrums SignGes kam zu einem aufrüttelnden Ergebnis: Die Barrierefreiheit ist demnach im neuen Angebot nicht gegeben. "Das gesamte Antragsverfahren, die gesamte Verwaltung, auch die Evaluation ist nicht barrierefrei. Es läuft alles über ein Portal von der GESUB, da gibt es keine gebärdensprachlichen Übersetzungen und das Antragsverfahren und die Verwaltung ist durchaus kompliziert und deswegen auch für gut ausgebildete Gehörlose nicht barrierefrei und die schriftsprachlich gut sind", sagt Dr. Klaudia Grote, Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums für SignGes, RWTH Aachen.

Mittelbare Diskriminierung

Man habe auch mit Frau Professor Theresia Degener, die von 2011 bis 2018 Mitglied und Vorsitzende des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen war, darüber auch gesprochen. "Sie meinte, dass es sich bei diesen Schwierigkeiten, überhaupt einen Zugang zu finden zu Beratungsstellen oder zu Antragsverfahren, um eine ‚Mittelbare Diskriminierung‘ handelt. Das ist der juristische Ausdruck dafür", so Dr. Klaudia Grothe.

Stellungnahme

Die rund 500 EUTB Stellen in Deutschland werden von der GSUB organisiert, der "Gesellschaft für Soziale Unternehmensberatung" als zentraler Fachstelle für Teilhabeberatung. Sehen statt Hören hat dort für ein Interview angefragt, doch man hat auf das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) verwiesen. Von dort gab es dann eine schriftliche Stellungnahme zu unserer Anfrage. Hier der Wortlaut:

Stellungnahme Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)

"Beratungsangebote mit besonderer Erfahrung und Kompetenz, wie z. B. für Gehörlose und Taubblinde waren an der Antragstellung nicht gehindert. Ein Bestandsschutz für bereits geförderte Beratungsangebote wird jedoch nicht gewährt, da er zu einer Privilegierung bestehender Angebote und Ungleichbehandlung neuer Antragsteller führen würde. Zudem würde er die Verfestigung von Strukturen begünstigen und die Qualitätsentwicklung der Beratungsangebote erschweren.

Die erforderlichen Ausgaben für besondere Bedarfslagen der Ratsuchenden, um das Beratungsangebot in Anspruch zu nehmen, z. B. Ausgaben für Gebärdensprachdolmetscher werden weiterhin erstattet. Dies unterstützt taube Menschen in Settings mit hörenden Peers bei fehlender Gebärdensprachkompetenz."

Übersetzt bedeutet das: Wer Beratungsbedarf hat, soll eine Beratungsstelle mit hörenden Beraterinnen und Beratern aufsuchen, die erforderliche Dolmetschleistung wird bezahlt.

Aus für das Konzept „Eine für Alle“?

Was wird dann aus dem Konzept "Eine für Alle"? "Ich glaube, es ist beim Bundesministerium noch nicht ganz angekommen, dass behinderte Menschen in völlig unterschiedlichen Situationen sind", sagt Uwe Schönfeld, der Geschäftsführer des Zentrums für Kultur und visuelle Kommunikation der Gehörlosen Berlin / Brandenburg e.V. (ZfK BB e.V.). Besonders Menschen mit Sinneseinschränkungen finden seiner Einschätzung nach darin überhaupt keine Berücksichtigung. Auch der spezielle Beratungs- und Kommunikationsbedarf gehörloser oder blinder Menschen gehe dabei unter. Das Konstrukt "Eine für Alle" sieht er in der Neuerung überhaupt nicht mehr.

"Normalerweise kann jeder Ratsuchende ohne Anmeldung einfach vorbei kommen - wie soll das bei gehörlosen Personen funktionieren? Ohne Dolmetscher? Also muss der Termin vertagt werden. Oder die geplante Videoberatung – wie soll da die Kommunikation funktionieren? Wieder sind gehörlose Menschen außen vor. Das geht überhaupt nicht. Das Bundesministerium muss Menschen mit Sinneseinschränkungen gesondert betrachten und in anderer Form unterstützen."

Uwe Schönfeld, Geschäftsführer ZfK BB e.V.

Kritische Stimmen auch aus der Politik

Hubert Hüppe, Bundestagsabgeordneter der CDU

Unterstützt wird Uwe Schönfeld da auch aus der Politik. Hubert Hüppe, Bundestagsabgeordneter der CDU findet, dass diese neue Regelung all dem widerspreche, was man bisher im Bereich Inklusion unter Inklusion verstanden hätte. "Es widerspricht meiner Meinung nach auch der UN Behindertenrechtskonvention", sagt er. Denn jeder wüsste, wie schwierig es heute sei, einen Gebärdensprachdolmetscher zu bekommen. "Also, dann muss man erst einen Antrag stellen, dann muss man einen Termin bekommen, dann muss die Beratungsstelle ja auch können und wenn man arbeitet, muss man selber das auch noch einrichten können. Man macht das einfach unnötig schwierig. Ich kann nicht verstehen, warum man nicht einfach die erfahrenen Berater, mit denen man ja auch gute Erfahrungen gemacht hat, weiter beibehält. Es kann sein, dass die Richtlinien da widersprechen. Aber wenn das so ist, dann sollte man die Richtlinien ändern und nicht das System."

DGS hat Stellungnahme abgeschickt

Der Deutsche Gehörlosen-Bund hat in seiner Stellungnahme an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefordert, dass im Zuge des Widerspruchsverfahrens die Ablehnungsbescheide zurückgenommen werden und die EUTB-Einrichtungen für gehörlose Menschen weiterhin bestehen bleiben.

Anfang des Jahres 2023 werden wir von "Sehen statt Hören" wissen, welche EUTB-Beratungsstellen für taube und taubblinde Menschen weiterbestehen dürfen.


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