BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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"Ich bin anders" CODA – Kinder gehörloser Eltern

Das Gefühl anders zu sein. Das kennen hörende Kinder gehörloser Eltern (Children of Deaf Adults - CODAs) seit ihrer frühesten Kindheit. Denn sie wachsen mit zwei Sprachen und Kulturen auf. Für manche ist das sehr bereichernd. Gerade für ältere CODAs stellt sich jedoch häufig die Frage nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit. Sehen statt Hören hat mit zwei CODAs über ihr Anderssein gesprochen.

Stand: 08.02.2024

RITA

Rita Mohlau wird 1971 hörend geboren. Von klein auf wird in der Familie gebärdet. Rita hat eine enge Bindung zu ihren Eltern. Nach der Schule will Rita wie viele andere Jugendliche auch erst einmal von Zuhause weg. Ritas Vater wollte das nicht, "Nein, Rita bleibt hier", waren seine Worte. Die Mutter war zwar traurig, aber verständnisvoll. Für Rita eine schwierige Situation: auf der einen Seite der Wunsch, das eigene Leben zu entdecken, auf der anderen Seite ein hohes Verantwortungsbewusstsein ihren Eltern gegenüber.    

Gefühl, helfen zu müssen

Rita Mohlau

Rita blieb – aber es war schwer, sich von den Eltern abzugrenzen. Sie hatte immer das Gefühl, helfen zu müssen. Und ihr Vater forderte das auch wie selbstverständlich ein. Gegenüber dem Vater musste sie schließlich Grenzen aufzeigen, was ihr sehr schwer fiel. So wie Rita geht es vielen Codas: "Nein" zu sagen, ohne das Gefühl, die eigenen Eltern dabei zu verletzen oder etwas falsch zu machen, ist für sie sehr schwer.

Gebärdendolmetscherin als Beruf

Rita macht eine Ausbildung zur Erzieherin. Nach einigen Jahren bekommt sie ein Burnout. Während dieser Zeit erfährt sie vom berufsbegleitenden Studium "Gebärdensprachdolmetschen" in Zwickau. Heute arbeitet Rita erfolgreich als Gebärdensprachdolmetscherin.

"Ich kann die Gebärdensprache. Ich kenne die Gehörlosenkultur. Ich habe ein Gespür für gehörlose Menschen, weil ich mit Gehörlosen aufgewachsen bin. Was auch noch dazu kommt: Es gibt für Gehörlose immer noch Barrieren und ich kann vielleicht ein bisschen helfen, dass die Barrieren überwunden werden. Das ist schön."

Rita Mohlau

Bereichernder Kontakt zu Codas

Erst während der berufsbegleitenden Ausbildung hört Rita ihren ersten Vortrag zum Thema Coda. Sie war vollkommen ergriffen – denn da wurde genau ihr Leben beschrieben. Sie besuchte daraufhin ihr erstes Coda-Treffen und nimmt seither regelmäßig daran teil.  

"Bei den Coda-Treffen dabei zu sein, ist für mich sehr wichtig. […] Andere erzählen von einer Sache, die mich auch beschäftigt. Deshalb ist es so wichtig für mich. Ich brauche die Reflexion, muss mich selber kennenlernen, um die Dinge einordnen zu können."

Rita Mohlau

Mittlerweile besucht Rita die Treffen nicht nur, sondern betreut auch die "Koda-Camps", die seit 2012 für die unter 18-jährigen Codas angeboten werden. Sie weiß, die Gemeinschaft und der Zusammenhalt sind schon für die Jüngeren sehr wichtig. Und auf diesen Treffen hat Rita auch ganz besondere Menschen gefunden, mit denen sie eine tiefe Freundschaft verbindet.

Ausgesöhnt

Das Verhältnis zwischen Rita und ihrer Mutter war immer gut.

Ritas Vater ist mittlerweile verstorben. Sie hat sich zuvor bereits ausgesöhnt mit ihm und auch mit ihrer Mutter viel gesprochen. Jetzt beschäftigen sie ganz andere Gedanken.

"Die Situation, mit der ich aufgewachsen bin, war so besonders. Wenn meine Mutter auch irgendwann nicht mehr da ist, wo bleibt dann das Besondere? Dann würde es irgendwie normal sein. Ich bin es nicht gewohnt, normal zu sein. Ich bin es gewohnt, anders zu sein."

Rita Mohlau

MARVIN

Marvin mit seiner Mutter Andrea

Marvin van Beek kann es sich nicht vorstellen, mit hörenden Eltern zu leben. Dass für ihn die Gehörlosigkeit seiner Eltern so unproblematisch ist, liegt auch an einer wichtigen Entscheidung, die seine Eltern bei seiner Geburt fällten. Eine echte Weichenstellung: Er sollte – gegen den Willen der hörenden Großeltern – zweisprachig aufwachsen. Die Eltern kommunizierten mit ihm in Gebärdensprache. So wurde für Marvin Gehörlosigkeit völlig normal.

"Es gab nicht viel, was mich gestört hat; auch gestört ist nicht richtig, aber na klar, es gab oft die gleiche Situation - wenn wir zum Beispiel unterwegs waren, mit der U-Bahn und dann hat Mama oder Papa auch kurz geschrien, weil ich noch klein war und gerade nicht aufgepasst habe. Und wenn sie dann kurz laut gerufen haben, drehten sich alle Leute um. Aber für mich war das kein Problem. Ich bin so aufgewachsen."

Marvin van Beek

Barrieren sind gesellschaftliches Problem

Als "behindert" hat Marvin seine Eltern nie empfunden – gehörlos, ja, aber es gibt ja Gebärdensprache. Die vorhandenen Barrieren sieht er vor allem als gesellschaftliches Problem. Im persönlichen Umfeld bringt er den Hörenden die Gehörlosenkultur näher: In der Schule hat er beispielsweise einen umfassenden Vortrag zu Gehörlosigkeit gehalten. Er selbst ist großer Fan der Gehörlosenkultur.

"Ich finde die Gehörlosenkultur viel schöner als die Kultur der Hörenden. Sie ist schöner, weil man benutzt die Hände, schaut sich in die Augen; nicht irgendwo hin währenddessen man aufs Handy schaut und spricht. Das ist das Schöne."

Marvin van Beek

Ein eigener Weg

MArvin geht seinen eigenen Weg ...

Auch Marvin ist für Überraschungen gut: Nur kurz vor dem Abitur bricht er die Schule ab. Vielleicht nicht untypisch für Codas. Marvins Eltern machte der Schulabbruch natürlich Sorgen, dennoch unterstützen sie ihren Sohn, der mittlerweile ein freiwilliges soziales Jahr als Schulhelfer begonnen hat. Er ist glücklich mit seiner Entscheidung. Und die Eltern sind entschlossen, ihn im richtigen Moment auch loszulassen. Und ihn selbstständig und unabhängig sein zu lassen.

"Wenn Marvin später einmal auszieht, mache ich mir keine Sorgen. Er ist jetzt schon viel unterwegs. Ich werde ihn schon loslassen. Ich habe keine Sorgen, dass er dann nur noch in der Welt der Hörenden ist. Er wird weiterhin seine Coda-Freunde haben und parallel in der Welt der Hörenden und Gehörlosen sein. Ich denke schon. Das hoffe ich zumindest."

Andrea van Beek, Marvins Mutter

Coda-Treffen

Seit 2004 gibt es Coda-Treffen im deutschsprachigen Raum statt.


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