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Computerspielsucht Wenn Zocken zur Sucht wird

Computerspiele – ein Milliardengeschäft! Rund 34 Millionen Gamer gibt es alleine in Deutschland. Um sie werben Anbieter mit innovativer, teils spektakulärer Technik und immer raffinierteren Strategien. Doch Experten schlagen Alarm: Besonders viele junge Gamer sind suchtgefährdet. Gaming Disorder oder Computerspielsucht ist erst seit kurzem als Krankheit anerkannt.

Von: Bernd Thomas

Stand: 09.09.2019

Computerspielsucht: Jennifer im Spielfilm "Play" | Bild: Screenshot BR

In andere Welten tauchen, eine Mission haben, Held sein, sich ausprobieren. Eine verlockende Möglichkeit gerade für Jugendliche und Heranwachsende, auch für die 17-jährige Jennifer im Spielfilm „Play“. Die BR-Produktion läuft am 11. September um 20.15 Uhr im Ersten und macht auf ein dringendes Tabuthema aufmerksam. Denn neben virtuellen Gefahren lauern im Online-Gaming auch ganz reale, gerade für jugendliche Gamer: Gaming kann abhängig machen. Auch die junge Jennifer im Spielfilm „Play“ wird computerspielsüchtig.

Das Tabuthema Computerspielsucht braucht dringend mehr öffentliche Aufmerksamkeit, meint BR-Intendant Ulrich Wilhelm.

"Wir wollen mit dem Film eine Debatte auslösen. Der Film kann unmöglich alle Fragen beantworten, er kann nur ein Schlaglicht setzen. Wichtig ist, dass das Thema eingeordnet und aufbereitet wird. Es ist Teil unseres Lebens und wird auch zukünftig ein wichtiges Thema in der Gesellschaft sein."

Ulrich Wilhelm, BR-Intendant

Boomender Markt mit erheblichen Risiken

Die Branche boomt. Wie rasant sich Möglichkeiten und das Interesse am Gaming verändern, zeigen eindrucksvoll die jährlich neuen Besucherrekorde von Computerspielmessen wie der „Gamescom“ in Köln. Der Umsatz der Branche ist mit 4,4 Milliarden Euro pro Jahr inzwischen deutlich höher als der Kinomarkt.

Wachstumsraten werden vor allem bei älteren Spielern über 50 Jahre verzeichnet. Die Zahl der jugendlichen Gamer ist in den letzten Jahren annähernd konstant geblieben. Aber: An durchschnittlich mehr als drei Tagen pro Woche zocken Jugendliche, Gaming gehört längst zum Alltag. Und nur zu gut wissen Jugendliche oft auch, Altersfreigaben und Sperrvermerke geschickt zu umgehen. Kinder- und Jugendpsychiater wie Prof. Franz Joseph Freisleder, ärztlicher Direktor der kbo Heckscher Kinderklinik in München, sorgen sich besonders um die Gruppe der Teenager.

"Ich würde sagen, gerade der Altersbereich der 14- bis 16-Jährigen ist besonders betroffen. Hier müssen wir doch von circa vier Prozent Gaming-Süchtigen ausgehen, oder zumindest von erheblich riskantem Gamingverhalten."

Prof. Franz Joseph Freisleder, ärztlicher Direktor, kbo Heckscher Kinderklinik, München

Der Prozentsatz liegt damit zwei- bis dreimal so hoch wie bei Glückspielsüchtigen. Zudem gibt es einen großen Graubereich von wahrscheinlich mehr als zehn Prozent, schätzen Experten.

Sucht oder vorübergehende Phase?

Wo liegt die Grenze zwischen einer intensiven Spielphase, die viele Jugendliche durchlaufen und einer echten Computerspielsucht? Seit rund einem Jahr ist die Computerspielsucht auch offiziell von der WHO als Krankheit anerkannt. Aber verbindlich eingeführt wird das neue internationale Krankheitsverzeichnis erst 2022.

In der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen werden computerspielsüchtige, meist junge Erwachsene behandelt. Chefarzt Dr. Bert te Wildt hat über Computerspielsucht geforscht. Studien haben gezeigt, dass bei Computerspielsüchtigen ähnliche physiologische Belohnungsprozesse im Gehirn ablaufen, wie bei stofflich Süchtigen, die zum Beispiel von Alkohol oder anderen Drogen abhängig sind. Die Kriterien für die Sucht sind ebenfalls ähnlich.

"Bei der Computerspielsucht geht es einerseits um das Suchtverhalten, dass immer mehr gespielt wird, die Dosis gesteigert wird, dass es Entzugserscheinungen gibt, wenn man nicht spielen kann, dass man Kontrollverlust hat, dass man andere belügt und täuscht. Also die ganzen Suchtverhaltensweisen und Suchtempfindungen spielen eine Rolle. Und dann muss mindestens ein Lebensbereich, in der Regel sind es aber mehrere, negativ betroffen sein. Oft sind es die Bereiche Ausbildung, Schule, Beruf und Studium, die sozialen Beziehungen, ständig Streit mit den Eltern, keine Freunde mehr, keine Partnerschaft. Hinzu kommt auch der Umgang mit dem eigenen Körper, die Vernachlässigung von ganz basalen körperliche Dimension, die bis in die Verwahrlosung gehen können."

PD Dr. med. Bert te Wildt, Psychosomatische Klinik, Kloster Dießen

Bei vielen Patienten, auch in der Klinik in Dießen, begann die Abhängigkeit bereits im Teenageralter.

"Ich habe die Schule zwar immer grade so geschafft, aber ich war nie besonders gut. Ich habe zu Hause keine Hausaufgaben gemacht und nicht gelernt, sondern nur gespielt. Und wirklich mich damit auseinandergesetzt, dass ich süchtig bin und nicht ohne kann, habe ich nicht. Ich habe es mehr oder weniger verdrängt. Ich war zu der Zeit auch ziemlich einsam. Und dieses Hobby, das zur Sucht geworden ist, habe ich dann eben als Ausweg genutzt. Das war natürlich so, dass meine Eltern das nicht lustig fanden. Sie haben versucht, das in irgendeiner Weise zu verhindern. Dann war es so, dass ich sie auch oftmals angelogen und getäuscht habe."

Anonymer Patient

Computerspielsucht: Diagnose und Therapie

Vor allem Onlinespiele bergen das Risiko zur Sucht. Man kann sie mit anderen, zu jeder Tages- und Nachtzeit und viele tausend Stunden spielen, ohne zu einem Ende oder Ziel zu kommen. Viele Süchtige fühlen sich lange Zeit ausgesprochen gut dabei. Motivation und Bestätigung sind geschickte Strategien der Anbieter - wie Belohnungen, Aufstiegschancen, Angebote neuer Ausstattungen und Glücksspielmomente.  

Viele Patienten verlieren im Verlauf ihrer Erkrankung aber zunehmend die Kontrolle über ihr Leben. Sie geraten in einen sich selbst verstärkenden Teufelskreis aus Spiel, Frustration über das Erleben ihrer realen Umwelt und Depressionen.

Oft erkennen Eltern lange nicht, dass ihr Kind tatsächlich ernsthaft erkrankt ist. Dr. te Wildt rät besorgten Eltern und Angehörigen, die Probleme auf jeden Fall anzusprechen und nicht aufzuschieben. Die Diagnose einer Onlinespielsucht erfolgt über zwölf Monate, ein weiterer Grund, nicht allzu lange zu warten, bis man sich professionelle Hilfe sucht.

"In dem Moment, wo es jemandem auffällt, dass bei jemandem eine Suchterkrankung vorliegen könnte, ist es sinnvoll, sich auszutauschen. Erst einmal miteinander innerhalb der Familie, mit Freunden, mit einem Hausarzt oder dem Kinderarzt. Und Suchtberatungsstellen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind mittlerweile in der Regel auch spezialisiert auf das Thema Internet- und Computerspielsucht. Sie bieten auch Sprechstunden für Angehörige an."

PD Dr. med. Bert te Wildt, Psychosomatische Klinik, Kloster Dießen

Wege aus der Sucht

Je früher eine Sucht erkannt wird, desto besser sind die Chancen, sie zu heilen. Aktuelle Studien belegen, dass Therapien tatsächlich wirksam helfen können. Wie nachhaltig die Erfolge sind, darüber gibt es allerdings noch kaum belastbare Zahlen.

Wenn ambulante Beratung und Behandlung, die von den Kassen bezahlt werden, nicht helfen, kann eine stationäre Behandlung erfolgen. Allerdings gibt es noch keine Möglichkeit, eine Therapie für die Diagnose Video- oder Onlinespielsucht als GKV-Leistung zu erhalten. Bis zum Inkrafttreten des neuen Krankheitskatalogs ICD11 am 1. Januar 2022 können die gesetzlichen Kassen die Kosten für eine Psychotherapie übernehmen, wenn zusätzlich zur Computerspielsucht weitere Diagnosen vorliegen, zum Beispiel eine Depression oder Angststörung.

Eine stationäre Therapie dauert in der Regel bei Erwachsenen sechs bis zehn Wochen. Neben dem Entzug, der für die Betroffenen psychisch und emotional oft extrem belastend ist, geht es in der Therapie um Ursachen und Faktoren, die in die Sucht geführt haben. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale erhöhen das Risiko einer Abhängigkeit.

"Es gibt gute Studien, die zeigen, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale Risikofaktoren darstellen, computerspielsüchtig zu werden: So sind besonders Menschen gefährdet, die ängstlich und schüchtern sind. Menschen, die Selbstwertprobleme haben, also das Gefühl haben, da draußen werde ich eigentlich nicht so angenommen, wie ich bin. Menschen, die besonders impulsiv sind, deren Bedürfnis es ist, ganz schnell eine Belohnung zu bekommen oder ihre Leidenschaften zu befriedigen."

PD Dr. med. Bert te Wildt, Psychosomatische Klinik, Kloster Dießen

Meist entstehen im Verlauf der Sucht weitere Krankheiten, wie zum Beispiel Depressionen, sehr selten auch Psychosen. Sucht erfordert in jedem Fall professionelle Begleitung und Behandlung. Allerdings gilt für die Therapie: Patienten müssen zustimmen und mitmachen, nur dann kann eine Therapie erfolgreich sein.

"Wir haben hier alle gängigen Endgeräte zur Verfügung. In diesen Raum kommen die Patienten aber nur einmal: Sie sollen im Rahmen der Behandlung möglichst ihre Accounts löschen. Und das ist etwas, was sehr gut emotional vorbereitet werden muss. Spieler haben häufig 20 bis 30.000 Stunden in ein Spiel investiert und oft noch tausende Euro. Und das dann zu löschen, das kann zu heftigen emotionalen Reaktionen führen, über Wutausbrüche bis hin zur Suizidalität. Deshalb sollte das unbedingt auch im stationären Rahmen erfolgen, das ist nicht zu unterschätzen. Aber wenn ein Spieler die Entscheidung getroffen hat, dann ist das einer der wichtigsten Schritte in der Behandlung."

Dr. med. Julian Laufer, Psychosomatische Klinik, Kloster Dießen

Oft fragen Anbieter noch wochenlang nach der Löschung des Accounts durch den Spieler immer wieder über Email oder SMS nach, ob der Gamer seinen Account oder Helden nicht doch weiternutzen möchte.

Altersfreigaben und Jugendschutz: Dringend benötigte Reformen

Auch die Politik hat inzwischen erkannt, wie groß die Risiken für gefährdete Jugendliche sind. Die aktuellen Gesetze reichen nicht aus, meint das Bundesfamilienministerium und plant Reformen. 

"Wir haben ein Jugendschutzgesetz, das ist noch ein bisschen im Zeitalter von CD-Rom und Videokassette stehengeblieben. Es muss dringend erneuert werden. Daran arbeiten wir im Moment, und wir planen, dass wir bis Ende des Jahres auch einen ersten Aufschlag machen. Jugendschutz geht vor Profitgier, hier muss eine Grenze gesetzt werden. Das heißt also überall da, wo es in Richtung Glücksspiel geht, in Richtung Suchtgefährdung müssen wir genau hinschauen und das auch rechtlich regeln."

Franziska Giffey, Bundesfamilienministerin

Im Film „Play“ spitzt sich Jennifers Situation immer mehr zu. Trotz dramaturgischer Zuspitzung bescheinigen Experten wie Prof. Franz Josef Freisleder und PD Dr. Bert te Wildt den Filmemachern, Jennifers Weg in die Sucht realitätsnah und äußerst packend nachzuzeichnen.

"Es ist eine ganz ungewöhnliche Mischung. Der Film spielt natürlich mit fantastischen Elementen, wie die des Fantasyfilms und des Horrorfilms, die sind natürlich nicht realistisch. Aber so wie das Krankheitsbild einer Computerspielsucht dargestellt wird, das ist wirklich sehr eindrucksvoll und sehr nah an der Realität. Und es hat mich tief berührt - als jemanden, der sich seit siebzehn Jahren mit Patienten, die computerspielsüchtig sind, beschäftigt."

PD Dr. med. Bert te Wildt, Psychosomatische Klinik, Kloster Dießen

Drehbuchautor und Produzent Hamid Baroua freut sich über diese Rückmeldung und hofft, dass sich durch mehr Aufmerksamkeit und die jetzt endlich erfolgte Anerkennung der Sucht als offizielles Krankheitsbild, endlich auch die Situation der Betroffenen in rechtlicher und sozialer Hinsicht verbessert. Denn nach der Therapie erwartet die Patienten im Alltag dann oft die eigentliche Herausforderung: Sie müssen den vielen Möglichkeiten widerstehen, wieder ins Gaming einzusteigen.   

"Ich werde zu Hause meinen PC ab- und nicht mehr aufbauen, den ich mir extra für das Spielen gekauft hatte. Das Onlinespielen zu Hause alleine in meinem Zimmer, das geht einfach nicht mehr."

Anonymer Patient

Hilfe für Betroffene

Das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) „Computersuchthilfe“ wird vom Bundesgesundheitsministerium und der DAK gefördert. Betroffene können sich an das DZSKJ wenden, um professionelle Unterstützung zu erhalten.


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