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Betreten auf eigene Gefahr 24 Stunden unterwegs in der virtuellen Realität

Brille auf, Welt aus: Virtual Reality hält gerade Einzug in unseren Alltag, sie wird unser Leben verändern. Was genau die neue Technik mit uns anstellen wird, ist noch nicht klar. Christian Schiffer wagt den Selbstversuch: 24 Stunden in der virtuellen Realität.

Von: Christian Schiffer und Christian Alt

Stand: 13.07.2016

24 Stunden in der virtuellen Realität - ein Selbstversuch | Bild: BR / Julia Müller

Jetzt noch näher dran: Für Kopfhörer optimierte Sendefassung

Kopfhörer auf, Brille an, Welt aus: Virtual Reality wird unser Leben verändern. Wie genau? Christian Schiffer wagt den Selbstversuch: 24 Stunden in der virtuellen Realität - hier in einer binauralen, für Kopfhörer optimierten Version.

Virtual Reality - sechs Thesen

1. Virtual Reality wird Mainstream werden. Vielleicht nicht sofort, aber schon bald

1935 beschreibt der Science Fiction-Autor Stanley Weinbaum eine wundersame Brille, die dem Träger eine virtuelle Welt vorgaukelt, in der er tun und lassen kann, was er will. 2016 kommen gleich mehrere Virtual Reality-Brillen auf den Markt. Programmierer, Künstler und Gamedesigner überbieten sich mit unterhaltsamen, skurrilen und manchmal befremdlichen Anwendungen für die neue Technologie.

Den ersten Hype erlebt Virtual Reality in den 90er Jahren – mitten im Multimedia-Boom. Computerspielzeitschriften berichten über das Thema, in Szenezeitschriften wird über Cybersex phantasiert und das Foto eines Nerds mit klobigem Virtual Reality-Helm auf dem Kopf wird gerne gewählt, wenn irgendwo das große Thema „Zukunft“ bebildert werden muss. Doch bald schon folgt der Kater: Die Virtual Reality-Helme sind zu teuer, es gibt kaum Software dafür und: Die virtuelle Realität sieht leider nicht besonders gut aus. Nach diesem Flop interessiert sich erst einmal niemand mehr für Virtual Reality, bis der 19-jährige Designstudent Palmer Luckey vor ein paar Jahren den Prototyp der „Oculus Rift“ vorstellt. Seitdem erlebt die virtuelle Realität ihren zweiten Hype. Klar ist: Egal ob der Anlauf jetzt klappt oder die Technik dann doch nur Steigbügelhalter für eine noch bessere Art der VR ist: Virtual Reality ist möglicherweise das letzte Medium, das der Mensch erfinden wird. Alle anderen Medien werden letztlich in Virtual Reality aufgehen. Wir werden Fernsehen gucken in der VR, ins Kino gehen, spielen und lesen.

2. Virtual Reality wird unseren Alltag umkrempeln - auch wenn man selbst keine VR benutzt

Kürzlich hat Ikea seine „Ikea VR Experience“ gelauncht. Man kann nun in der virtuellen Realität durch eine Küche wandern und virtuelle Dunstabzugshauben bestaunen. Es gehört wenig Phantasie dazu sich vorstellen, dass VR auch für Architekturbüros, Universitäten oder Bekleidungsketten eine interessante Technologie ist. Der Grund dafür ist einfach: Die virtuelle Realität ist günstiger und: Sie ist flexibler als die „echte“ Realität. Für ein virtuelles Möbelhaus muss man keine Grundstücksmiete bezahlen und die neue Variante des Billy-Regals lässt sich auf Knopfdruck aufstellen.

Waschmaschine, Automobil, Smartphone: All das hat nicht nur das Leben von Menschen verändert, sondern auch Wirtschaft, Gesellschaft und die Art, wie Menschen sich im Alltag verhalten. Dasselbe gilt für die virtuelle Realität.

3. Virtual Reality hat das Potenzial, uns zu besseren Menschen zu machen - und zu schlechteren

Vielleicht kann uns die virtuelle Realität dabei helfen, zu besseren Menschen zu werden: In “Across The Line” schlüpft der VR-Brillenträger in die Rolle einer Frau, die eine Abtreibung vornehmen lassen will. Dabei trifft man auf bibelfeste Aktivisten, die einen wüst beschimpfen. Auch das Thema Flucht wird in der virtuellen Realität aufgegriffen, beispielweise in VR-Dokumentationen, die den Zuschauer in ein Flüchtlingslager versetzen. Vielleicht kann die virtuelle Realität dazu beitragen, das Leid anderer Menschen noch intensiver erfahrbar zu machen und dadurch bewirken, dass wir anderen weniger ignorant gegenüber stehen. Vielleicht löst die virtuelle Realität einen weiteren Zivilisierungsschub aus.

Aber natürlich kann auch das Gegenteil passieren. Technologien unterliegen immer dem “Dual-Use”: Mit einem Messer kann man jemanden operieren oder ihm die Kehle durchschneiden. In gewisser Weise gilt das auch für die virtuelle Realität. Sie kann die Menschheit zum Guten erziehen oder zum Schlechten.

4. Virtual Reality kann Menschen helfen - und sie manipulieren

Eine Virtual Reality-Brille täuscht dem Gehirn mittels ausgeklügelter Optik vor, sich in einer eigenen Welt zu befinden. Die virtuelle Realität bietet so ein noch größeres, ungehobenes Potential zur Manipulation, das über die reine Immersion oder Überwältigung hinaus geht. VR gaukelt uns vor, an Orten gewesen zu sein, obwohl wir es nicht sind. Wir speichern VR-Erfahrungen als Erlebtes ab und eben nicht als Gesehenes:

"Im Gegensatz zu anderen Medien kann VR Situationen erschaffen, in denen die gesamte Umgebung von den Erschaffern der virtuellen Welt bestimmt wird. So entstehen Gelegenheiten für neue und besonders wirkungsvolle Manipulationen von Geist und Verhalten, besonders dann, wenn die Kreation und Beaufsichtigung der virtuellen Welten durch kommerzielle, politische, religiöse oder staatliche Interessen getrieben wird."

Michael Madary und Thomas Metzinger, VR-Ehtiker, Gutenberg Universität Mainz

5. Virtual Reality wird neue alte Debatten provozieren

„Strange Days“ heißt der düstere Action Triller der Oscar-gekrönten Regisseurin Kathryn Bigelow aus dem Jahr 1995. In dem Film wird mit VR-Erfahrungen gehandelt wie mit Drogen, denn die virtuelle Realität erlaubt es Menschen, Erinnerungen und Erlebnisse nachzuerleben und der Realität so zu für einen kurzen Zeitraum zu entfliehen. Die Sehnsucht nach anderen Welten ist so alt wie die Menschheit selbst. Menschen haben schon immer versucht der Welt zu entfliehen, sei es durch religiöse Ekstase, durch Drogen, durch Kunst.

Virtual Reality könnte dazu dienen, Träume zu erfüllen, aber auch dazu, Bedürfnisse und Triebe zu befriedigen. Das Durchstreifen von kitschigen Fantasy-Welten, das Besuchen von fremden Planeten, drogenähnliche und sexuelle Erfahrungen: Das alles könnte die Technik auf Knopfdruck möglich machen. All das wird zu neuen alten Debatten führen: Was tun mit Menschen, die sich in die virtuelle Realität zurückziehen? Muss die Technik kontrolliert werden? Geht das überhaupt? Und darf man Menschen überhaupt vorschreiben, in welcher Realität sie sich aufzuhalten haben?

6. Politik, Recht und Gesellschaft sind auf diese neue Technologie nicht vorbereitet

Ist es Mord, wenn es sich nur echt anfühlt? Kann man Hartz IV-Empfängern in Miniwohnungen mit schicker VR stecken, um Kosten zu sparen? Darf ich mir meine Virtual Reality mit Disney-Charakteren dekorieren? Wer ist eigentlich Besitzer der VR-Welten? Ist man noch im deutschen Hoheitsgebiet, wenn man hier die VR betritt?

Die Politik hat selbst im Jahr 2016 noch keine Antworten auf die Fragen der ersten Digitalisierung, für Merkel ist das Internet immer noch #Neuland. Virtual Reality ist Neu-Neuland, ein Wilder Westen ohne Sheriff. Je billiger Virtual Reality-Brillen werden und je mehr Menschen diese neue Welt mitgestalten, umso mehr braucht es Gesetze für die Virtual Reality. Während die Nutzer der ersten VR-Erfahrungen gerade versuchen, ihre Welten selbst zu regeln, braucht es bei steigenden Zahlen echte Paragrafen. Und die kommen besser nicht von den Anbietern selbst. Denn auch hier zeigt sich schon: Facebook, zu denen die Brille „Oculus Rift“ gehört, trackt jeden Schritt, jeden Blick, jedes Kopfnicken des Nutzers.

Regie: Alexandra Distler
Redaktion: Ulrike Ebenbeck
BR 2016

Zu den Autoren

Christian Schiffer arbeitet als Radiojournalist für den Bayerischen Rundfunk. Inhaltlich beschäftigt er sich unter anderem mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung, zu seinen Themenschwerpunkten gehören außerdem Politik und Popkultur. Für das Radiofeature "Im Schutz der Dunkelheit. Eine Expedition ins Darknet" wurde er 2015 mit dem Prix Marulić ausgezeichnet.

Christian Alt arbeitet als Radiojournalist für den Bayerischen Rundfunk. Zu seinen Themenfeldern gehören Pop- und Netzkultur. Zurzeit beschäftigt er sich vor allem mit künstlicher Intelligenz und der Auswirkung von Technologie auf Mensch und Gesellschaft.


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