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Interview mit Stefan Aust und Dirk Laabs Buch über die NSU-Mordserie

"Heimatschutz" - hinter diesem Titel verbirgt sich das Buch von Stefan Aust und Dirk Laabs. Es ist eine akribische Bestandsaufnahme der Geschehnisse um die rechtextremistische Terrorzelle NSU, die jahrelang ungehindert mordete.

Von: Harald Steinwender

Stand: 16.06.2014 | Archiv

Buchcover "Heimatschutz" von Stefan Aust und Dirk Laabs | Bild: Verlagsgruppe Random House GmbH, colourbox.com; Montage: BR

Mehr als zehn Jahre zogen die Protagonisten des "Nationalsozialistischen Untergrunds" durch Deutschland, ermordeten aus rassistischen Motiven mindestens zehn Menschen, begingen 14 Banküberfälle und verübten mindestens zwei Bombenanschläge. Fest steht: Weder die Polizei noch die Verfassungsschutzbehörden haben die Taten des NSU verhindert. Mehr noch: Bis zum Tod der beiden Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 scheinen die Behörden nicht einmal einen rechtsradikalen Hintergrund vermutet zu haben.

Beispielloser Vorgang in der deutschen Geschichte

Stefan Aust und Dirk Laabs

Es ist ein beispielloser Vorgang, der viele Fragen aufgeworfen hat: über Behördenversagen, über Rassismus in Deutschland und über die konkreten Gefahren, die von organisierten Neonazis und rechtsextremen Strukturen ausgehen. In ihrem Buch "Heimatschutz - Der Staat und die Mordserie des NSU", das jetzt schon als Standardwerk zur Geschichte des NSU gelten muss, zeichnen Stefan Aust und Dirk Laabs nach, wie es dazu kommen konnte, dass der NSU mehr als zehn Jahre lang unerkannt im Untergrund leben und Migranten ermorden konnten.

Die beiden Autoren gaben dem BR am Rande einer Veranstaltung im Münchner Literaturhaus ein Interview, das im Folgenden leicht gekürzt wiedergegeben ist:

BR: Herr Aust, Sie haben sich viele Jahre mit der RAF und linksextremem Terrorismus beschäftigt. Sie, Herr Laabs, haben zu islamistischem Terror recherchiert. Im Vergleich zu diesen beiden Lagern wurde der Terror von rechts, den Sie in Ihrem gemeinsamen Buch "Heimatschutz" beschreiben, in Deutschland jahrzehntelang durchaus unterschätzt. Was sind die Gründe dafür, dass die Gefahr eines rechten Terrorismus so lange für unbedeutend gehalten wurde?

Aust: Ich glaube, es wurde nicht für unbedeutend, sondern für gefährlich gehalten. Nämlich: gefährlich, wenn man offen darüber redet. Gerade Anfang der 1990er-Jahre waren ja bestimmte Dinge nicht zu übersehen: Wie Asylbewerberheime in Brand gesetzt wurden, Menschen zu Tode kamen, was in Rostock-Lichtenhagen passierte. Das heißt: Rechte Gewalttätigkeit war bekannt. Ich kann mich entsinnen, dass wir, wenn wir z.B. bei "Spiegel-TV" darüber berichtet haben, häufig kritisiert wurden, weil gesagt wurde, wir gäben denen ein Forum. Ich habe gesagt: Das ist vielleicht das Problem, aber verschweigen wäre noch viel schlimmer. Was den Terrorismus betrifft, haben die Behörden - und das kann man jetzt sehr deutlich erkennen - zur Kenntnis nehmen müssen, dass es organisatorische Strukturen gibt. Ich glaube aber, man hatte einen Horror davor, dass in der Öffentlichkeit, speziell im Ausland, der Eindruck entsteht, dass es hier sozusagen klandestine Untergrundgruppen gibt, die so ähnlich wie die RAF eine Bedrohung für den Staat werden. Das hat man, soweit es geht, nach Außen ignoriert, aber unter der Oberfläche durchaus eine ganze Menge gemacht. Sie haben sich, wie das die Aufgabe von Geheimdiensten ist, vor allem mit V-Leuten in die Szene mit eingeklinkt und versucht, sie auszuspionieren.

Laabs: Es ist ja sehr vielsagend, dass es ein eigenes Referat im Bundesamt für Verfassungsschutz gab, das "Rechtsterrorismus" hieß. Das zeigt ja, dass man das sowohl analytisch und auch strukturell durchaus zur Kenntnis genommen hat.

Aust: Man hat sich später darauf rausgeredet, dass man es nicht für eine terroristische Organisation gehalten hat, weil man keine Organisationsstrukturen erkannt hat und weil es bei den Anschlägen und bei den gezielten Morden keine Bekennerschreiben gegeben hat. Man hat immer gedacht: Terrorismus, auch im rechten Umfeld, müsse so funktionieren wie im linken Umfeld. Also, indem es Organisationsstrukturen gibt, man bei Sympathisanten wohnt, politische Manifeste verfasst und dergleichen mehr. Man hat offenbar nicht mitgekriegt, dass das Konzept des "Leaderless resistance" ("Führerloser Widerstand"), das ist Terrorismus ohne Strukturen, dass das in Wirklichkeit tatsächlich funktioniert.

Laabs: Also das Bundesamt hat vom "Leaderless resistance" gewusst. Umso verblüffender ist es, dass man dann angeblich den letzten Schluss nicht gezogen hat. Und was man auch deutlich sagen muss: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt wurden ja auch als Gefahr erkannt und in der Abteilung Rechtsterrorismus verfolgt.

Aust: Und sie wurden mit einem Aufwand gesucht, das könnt Ihr euch nicht vorstellen. Der Verfassungsschutz, das hat sich ja im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss herausgestellt, die haben im Umfeld z. B. von Ralf Wohlleben mit einem Flugzeug, das sie aus Köln dahingeflogen haben, aus der Luft überwacht. Das tut man doch nicht in einer Szene, die man nicht für bedenklich oder bemerkenswert hält.

Zur Person: Stefan Aust

Stefan Aust

Stefan Aust war von 1994 bis 2008 Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" und ist seit 2014 Herausgeber der Tageszeitung "Die Welt". Aust begann seine journalistische Laufbahn im Jahr 1966 als Redakteur der Zeitung "Konkret", ehe er von 1972 bis 1986 als Mitarbeiter des NDR vor allem für das Politmagazin "Panorama" im Fernsehen tätig wurde. In dieser Zeit veröffentlichte Aust zahlreiche Bücher zu überwiegend politischen Themen. Internationale Aufmerksamkeit erregte er 1985 mit dem Sachbuch "Der Baader-Meinhof-Komplex" über die linksextremistische Terrorgruppe RAF.

Das beschreiben Sie in Ihrem Buch ja: das Bundesamt für Verfassungsschutz, die Landesämter des Verfassungsschutzes, die Landeskriminalämter, das BKA, der Militärische Abschirmdienst, die alle haben Informationen über Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe etc. gesammelt, hatten Informationen über das mutmaßliche Unterstützerumfeld. Hätten da die Morde nicht verhindert werden können? Wieso haben die Behörden diese ganzen Puzzleteile nie zusammengesetzt?

Aust: Die beliebteste Ausrede von hochrangigen Leuten aus dem Sicherheitsapparat ist die föderative Struktur. Sie sagen: Die Bundeländer arbeiten nicht ordentlich miteinander, die Polizeibehörden arbeiten nicht zusammen, es gibt Kommunikationsprobleme zwischen Verfassungsschutz und Polizei und alles Mögliche. Sie schieben das sozusagen auf ein bürokratisch-organisatorisches Chaos. Das mag eine Rolle spielen. Natürlich weiß manchmal die eine Hand nicht, was die andere tut. Das ist meiner Ansicht nach aber nicht der Kern des Problems. Wenn wir es mal nur auf die drei beziehen, auf Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe: Die waren untergetaucht. Man kannte die. Man kannte ihre Vorgeschichte, man kannte ihr Umfeld, ihre Freunde. Man wusste, dass sie mal Bombenattrappen gebaut haben. Man wusste, dass Böhnhardt wahnsinnig gewalttätig war. Das heißt: Man wusste außerordentlich viel über sie. Man ist sogar bei der Fahndung auf sie gestoßen. Es gibt mindestens einen solchen verbürgten Vorgang: Das ist das Bombenattentat in der Kölner Probsteigasse 2001. Da hat man in der Tatmitteldatei des Bundeskriminalamtes nachgeguckt und ist auf ähnliche Taten gekommen. Man ist dann über einen Umweg, über einen Anschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken tatsächlich auf Bombenattrappen gekommen und auf Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Das heißt: Man hatte die auf dem Schirm. Dann hat man eine Serie von Banküberfällen gehabt, insgesamt bis zu dem vor ihrem Tod 14. Da ist ermittelt worden. Da gibt es Videos, jede Menge. Da hätte man eigentlich mal auf den Gedanken kommen können: Wenn Leute im Untergrund sind - man wusste ja auch, dass es immer dieselben sind - wo kriegen die ihr Geld her? Wenn man dann zwei und zwei zusammenzählt, dann kommt man darauf.

Laabs: Es war ja sogar noch schlimmer. Bei dem ersten Überfall bekommt man genau in der Phase davor einen Hinweis von einem V-Mann, der sehr nahe dran ist, dem V-Mann "Piatto". Der sagt: Die brauchen Waffen für Überfälle. Und dann wird so ein Überfall von zwei jungen Männern in Chemnitz begangen, wo man auch die vermutet. Und keiner - keine einzige Behörde - will das auch nur irgendwie wahrgenommen haben und nicht pro Forma abgeklopft haben: Gibt es hier nicht irgendwelche offenen Überfälle, die wir uns mal angucken müssen? Und das ist natürlich schon extrem merkwürdig.

Aust: Wir sind ein bisschen skeptisch, was die reine Dummheit der Behörden anbetrifft. Aber man kann in diesem Fall auch an verschiedenen Stellen extrem viel Dummheit erkennen. Ein besonders irres Beispiel ist die Sache Keupstraße. Da war es 2004 eine Nagelbombe, die explodiert ist. Und da hätte die Polizei ja mal gucken können: Gibt es irgendwo anders Nagelbombenanschläge? Dann wäre man darauf gekommen, dass in London welche gewesen sind, fünf Jahre vorher: David Copeland, der Täter, kam auch aus der rechten Szene. Da hat Scotland Yard unaufgefordert ein 90-seitiges Dossier über den Fall Copeland an die Ermittlungsbehörden in Köln geschickt und darauf hingewiesen, das sehe doch alles ähnlich aus. Die Nägel hatten sogar dieselbe Länge. Und es gab sogar eine Bombenbauanleitung dafür in der deutschen Ausgabe der Zeitschrift "The Stormer" von "Combat 18", also einer dieser militanten rechtsradikalen Organisationen. Doch bei der Keupstraße hat man gesagt: Es hat nichts mit rechter Szene zu tun. Das Gutachten von Scotland Yard legte man zu den Akten mit der Begründung: David Copeland sitzt ja im Gefängnis, der kann das nicht gewesen sein. Das würde ich schon für ziemlich dämlich halten. Aber nach alldem, was man herausfinden kann, wenn man die vorhandenen Materialien ordentlich studiert, vor allem den Bericht des Untersuchungsausschusses in Berlin, dann kann man erkennen, dass es vollkommen ausgeschlossen ist, dass die Abteilung Terrorismus / rechtsradikaler Terrorismus beim Bundesamt für Verfassungsschutz, nicht auf den Gedanken gekommen sein soll, dass diese Drei irgendetwas mit der Mordserie zu tun haben. So dumm kann man nicht sein.

Manchmal habe ich schon das Gefühl, dass da auch ein gewisser institutioneller Rassismus eine Rolle gespielt hat.

Aust: An den glaube ich am allerwenigsten!

Laabs: Man muss immer unterscheiden: Mit dem, was wir sagen, meinen wir zu 90 Prozent den Verfassungsschutz und das Bundesamt. Es gibt natürlich auch die BAO Bosporus (die "Besondere Aufbauorganisation" bzw. Sonderkommission der Polizei, die ab 2006 die Česká-Mordserie aufklären sollte und dabei fast ausschließlich in die Richtung Organisierte Kriminalität ermittelte; Anm. d. Red.). Was die an Material und Akten produziert hat, das war wie ein Riesentanker, der auf Kiel gelegt worden ist. Und als die letzten Morde passiert sind, da konnte man das Steuer nicht mehr herumreißen. Als das jemand versucht hat - der Profiler Alexander Horn (ein Fallanalytiker der Kriminalpolizei, der 2006 einen rechten oder rassistischen Hintergrund der Mordserie vermutete; Anm. d. Red.) - hat man richtig gegen ihn gearbeitet, weil man das nicht wahrhaben wollte.

Die zehn dem NSU zugeschriebenen Morde

Nochmal zur Rolle des Verfassungsschutzes bzw. der V-Männer: Da drängt sich ja im Rückblick der Eindruck auf, dass da Benzin ins Feuer gegossen wurde. Statt z. B. verdeckte Ermittler einzusetzen, die weisungsgebunden sind, die keine Straftaten begehen dürfen und die ja tatsächlich verlässliche Informationen liefern würden, sind aktive und überzeugte Neonazis finanziell unterstützt worden - und damit wurde gerade die Szene mit aufgebaut. Man könnte fast sagen, dass es da eine zumindest indirekte staatliche Aufbauhilfe gab.

Aust: Ich glaube, objektiv gesehen ist das der Fall. Aber, das ist natürlich das Grundproblem, das Sie haben, wenn Sie sich mal in die Rolle eines Verfassungsschutz-Referatsleiters versetzen, der für Beschaffung von Informationen zuständig ist, und von dem man erwartet, dass er Quellen in der rechten Szene hat. Die Polizisten möchte ich erst mal sehen, die, vom Verfassungsschutz angeworben, bereit sind, in diese Szene abzutauchen und da die ganze Zeit mitzumachen. Und auch gleichzeitig mit einem Bein im Gefängnis stehen. Denn in dem Moment, in dem ein Polizeibeamter als Undercover-Agent da rein geschickt wird, ist der immer in Gefahr, dass er sich an irgendwelchen Dingen beteiligen muss, weil er sonst sofort auffliegt.

Laabs: Das Verlogene beim Bundesamt für Verfassungsschutz ist ja, dass die sagen: In dem Moment, wo ein V-Mann straffällig wird, stoßen wir ihn ab. Da gibt es dieses großartige Beispiel, den V-Mann "Primus", der in Zwickau angesetzt ist, wo auch das sogenannte "Trio" lange lebte. Ausgerechnet der wird abgeschaltet, weil er seinem V-Mann-Führer nicht verraten hat, dass er bei einer Produktion einer sehr bekannten Rechtsrock-Band, "Landser", mitgemacht hat. Da zieht sich natürlich der V-Mann-Führer folgende Zwickmühle auf: Wenn ihm dieser V-Mann "Primus" schon das nicht verrät, warum soll er dann verraten - und dafür gibt es Anzeichen - dass er dem NSU geholfen hat? Das heißt: Das Bundesamt für Verfassungsschutz will beides. Sie behaupten: "Nein, wir schließen aus, dass unsere V-Leute irgendetwas damit zu tun haben." Aber andererseits mussten sie zugeben, sie hatten sie nicht unter ihrer Kontrolle. Dieser Widerspruch ist noch nicht genug herausgearbeitet worden.

Aust: Wie sie auch Tino Brandt als V-Mann haben laufen lassen. Brandt hat mir selber erzählt, dass er seinen Kameraden in der Szene erzählt hat, dass er V-Mann gewesen ist. Der hat denen aber natürlich auch nicht alles erzählt, was er beim Verfassungsschutz den Beamten erzählt. Das heißt: Der hat sich in den verschiedenen Ebenen unterschiedlich bewegt. Und was Sie sagen, ist auch richtig, Stichwort "Öl ins Feuer kippen", manchmal sogar Benzin: Wenn man mal davon ausgeht, dass Tino Brandt den "Heimatschutz" aufgebaut hat - was stimmt - wenn man weiß, dass er etwa 200.000 Mark, also 100.000 Euro insgesamt gekriegt hat, dann hat er davon natürlich auch seine Organisation mit unterstützt.

Laabs: Er hat die Strafbefehle für andere, etwa für André K. bezahlt (Anm. d. Red.: einer der rechtsextremen Hauptakteure des Kameradschaftsnetzwerkes "Thüringer Heimatschutz"). Und man kann das auf einem ganz banalen logistischen Level erkennen: Brandt hatte kein Auto, kein Geld, kein Telefon. Da ging er zum Amt - dann hatte er ein Auto, ein Handy und war mobil. Und er hatte eine gewisse Struktur. Das ist wirklich das Schlimme: Dass viele dieser zentralen V-Leute, auch "Corelli", der inzwischen tot ist, überhaupt erstmals die Struktur in ihren Leben hatten, um überhaupt so erfolgreich in der Szene zu sein. Wer will mir denn erzählen, dass "Primus" allein in der Lage gewesen wäre, drei Geschäfte in Zwickau zu eröffnen, ohne diesen ständigen Geldfluss und die Struktur des Bundesamts?

Aust: Und deswegen machen wir uns das auch nicht so leicht. Denn in der Öffentlichkeit wird sehr leicht gesagt: "Der Verfassungsschutz ist auf einem Auge blind." Das ist die einfache Lösung und einfach nicht richtig. Da sitzen Leute, die ihre Aufgaben zumindest versuchen zu erfüllen. Und das, was wir an diesem Fall sehen, ist, dass es so gründlich schief gegangen ist. Und da, glaube ich, ist es auch für den Verfassungsschutz gut, wenn das wirklich richtig aufgeklärt wird. Dann müssen auch mal die Akten auf den Tisch und gesagt werden: "So ist es tatsächlich gewesen." Vielleicht haben die Leute anschließend viel mehr Verständnis für die.

Laabs: (unterdrücktes Lachen)

Aust: Vielleicht auch nicht.

Was wären denn Ihrer Meinung nach die Konsequenzen, die man politisch ziehen müsste im Hinblick auf den Verfassungsschutz?

Aust: Da wäre eine ganz deutliche Konsequenz zu ziehen: Der Fall muss wirklich aufgeklärt werden. Und wenn der Bundestags-Untersuchungsausschuss das nicht zu Ende gebracht hat, weil die Legislaturperiode zu Ende war, dann wären die gut beraten, wenn sie den Ausschuss noch einmal wiederaufnehmen würden. Es wird ja auch darüber nachgedacht. Es ist auch wirklich notwendig, z. B. in Nordrhein-Westfalen, im Umfeld der Keupstraße, einen Ausschuss zu machen. Denn da ist unglaublich viel vertuscht worden. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Wahrheit auf den Tisch kommt. Und es kann auch überhaupt nicht sein, dass sich Frau Zschäpe stellt, und zwei Stunden später gibt ein hoher Beamter des Verfassungsschutzes die Anweisung, die Akten zu schreddern. Damit darf man den nicht davonkommen lassen. Oder mein Lieblings-Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, der im Zusammenhang mit der Aktenschredderei im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss den denkwürdigen Satz gesprochen hat, wie er im Protokoll steht: "Staatsgeheimnisse dürfen nicht bekannt werden, die Regierungshandeln unterminieren." Wenn wir so weit sind, dann haben wir ein echtes Problem.

Laabs: Was die Bundesregierung, Heiko Maas und Thomas de Maizière, gemacht haben, das ist der zweite Schritt vor dem ersten: Man hat noch gar nicht die Fehler zu Ende analysieren können, weil gar nicht alle Fehler bekannt sind. Und jetzt will man schon irgendwelche Reformen machen. Es werden die Bundesanwaltschaft und das Bundesamt für Verfassungsschutz gestärkt. Dabei ist man noch gar nicht so weit, dass man sagen kann: Wo waren eigentlich die Probleme?

Zur Person: Dirk Laabs

Dirk Laabs

Der Journalist Dirk Laabs schrieb neben dem NSU unter anderem das Buch "Der deutsche Goldrausch - die wahre Geschichte der Treuhand". Laabs ist Gewinner des Dokumentarfilmpreises des Bayerischer Rundfunks und des Axel-Springer-Preises (2. Platz) für "Die Fremden im Paradies - warum Gotteskrieger töten". Er erhielt ein Stipendium der Ruge-Stiftung und wurde mit dem "Opus Primum" der Volkswagenstiftung ausgezeichnet. Laabs hat jahrelang auf dem Gebiet islamistischer und internationaler Terrorismus recherchiert. Seine Dokumentationen liefen auf zahlreichen Festivals und Sendern in Deutschland, der Schweiz und dem restlichen Europa.

Eine abschließende Frage: Im Schlusswort Ihres Buches schreiben Sie: "Dieses Buch soll ein Anfang sein und nicht das letzte Wort". Die Geschichte des NSU ist Ihrer Meinung nach also noch lang nicht restlos aufgeklärt, das wurde ja auch eben klar. Wo sind denn die größten Fragezeichen, die größten Lücken, die noch geschlossen werden müssen?

Aust: Da kann ich nur Donald Rumsfeld wiederholen: "There are known unknowns and unknown unknowns." Wir wissen, welche offenen Fragen es gibt. Die haben wir in dem Buch ziemlich präzise beschrieben, auch wenn wir sie nicht als Fragen benannt haben. Aber es gibt ja auch Fragen, von denen wir noch gar nicht wissen, dass es sie gibt. Also für mich ist noch nicht hundertprozentig geklärt, ob die drei tatsächlich die Morde alle allein begangen haben. Es gibt gravierende Unterschiede in der Vorgehensweise bei den Morden und bei den Banküberfällen. Es gibt einem auch zu denken, warum die zu ihrem 14. Banküberfall fahren, und die Beweise für zehn Morde mit sich herumschleppen. Kann man einfach erklären: Man kann sagen, die haben die immer dabei gehabt, weil sie gesagt haben: "Falls mal ein Streifenpolizist auftaucht, bringen wir uns um. Und dann wollen wir auch, dass jeder weiß, dass wir die Morde begangen haben". Kann alles sein. Irgendwie glauben tue ich das aber nicht.

Laabs: Der Mordfall Michèle Kiesewetter: Da weiß man ja noch nicht einmal annähernd, was da passiert ist (2007 wurde die Polizeibeamtin Kiesewetter in Heilbronn ermordet, die Tat wird dem NSU zugerechnet; Anm. d. Red.)

Aust: Dass der Verfassungsschützer Andreas T. zufällig dabei ist, wenn da jemand ermordet wird - unwahrscheinlich! (Andreas T., damals Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes, hielt sich am 6. April 2006 zu dem Tatzeitpunkt in dem Internetcafé in Kassel auf, in dem Halit Yozgat - mutmaßlich vom NSU - ermordet wurde; Anm. d. Red.)

Also noch viele offene Fragen …

Aust: Das kann man wohl sagen!

Laabs: Ja, man muss aber mal sagen, das ist nicht ungewöhnlich bei so einem großen Fall. Wenn man den 11. September betrachtet - ohne das von der Opferzahl zu vergleichen - da hat das fünf, sechs Jahre gedauert, ehe man einigermaßen klar gesehen hat. Da wusste man nach einem Jahr noch nicht einmal, wer der Chefplaner ist, also Chalid Scheich Mohammed. Insofern ist dieser Druck in den Medien und dass man so viele Antworten erwartet von einem Prozess in München fast ein bisschen naiv.

Aust: Was eigentlich fast noch schlimmer ist: Am Anfang ist die gesamte Polizei der Überlegung hinterher gelaufen ist: Ist das organisiertes Verbrechen? Und jetzt sind alle Leute der Meinung, das sind zwei Leute gewesen, die glücklicherweise tot sind, und jetzt können wir den Deckel zumachen. Und das ist, glaube ich, nicht der Fall. Und jeder, der auch nur Fragen stellt, wird irgendwie schon als Verschwörungstheoretiker in Frage gestellt. Das ist das Problem.

Herr Aust, Herr Laabs, vielen Dank für das Gespräch!

Stefan Aust und Dirk Laabs: "Heimatschutz - Der Staat und die Mordserie des NSU", Pantheon-Verlag, 864 Seiten, seit dem 26. Mai 2014 im Buchhandel erhältlich


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