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Neue Fluchtrouten in die EU Mit dem Frühling stechen sie in See

Die Balkanroute wird für die Flüchtlinge langsam, aber sicher unpassierbar - denn ein Land nach dem anderen macht dicht. Doch Hunderttausende warten bereits in Libyen auf besseres Wetter, um die gefährliche Reise über das Mittelmeer antreten zu können.

Von: Karin Bensch-Nadebusch

Stand: 23.02.2016 | Archiv

Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan | Bild: picture-alliance/dpa

Österreich macht dicht. Nachdem das Land Obergrenzen für Flüchtlinge eingeführt hat, limitieren auch andere Länder entlang der Balkanroute den Zustrom, zum Beispiel Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien. Der Bau eines Zaunes in Mazedonien entlang der griechischen Nordgrenze könne dazu führen, dass hunderttausende Menschen in Griechenland festsitzen, sagte Martin Schulz, der Chef des Europaparlaments in der ARD.

"Wenn die Balkanroute abgeschlossen wird, wird Griechenland ein großes Flüchtlingsaufnahmelager werden."

Martin Schulz, Chef Europa-Parlament

Alle Wege führen nach Europa

Dann werden Flüchtlinge neue Wege suchen. Zum Beispiel über Griechenland nach Albanien und von dort nach Italien. Eine Fähre von der albanischen Hafenstadt Vlora rüber ins süditalienische Brindisi braucht fünf bis zu siebeneinhalb Stunden.

Diese Route wurde bereits in den 90er Jahren genutzt, während des Kosovo-Kriegs, sagt ein Italienkenner. Doch dieser Kreislauf hilft nicht weiter, meint Parlamentschef Schulz.

"Dann kommen sie wieder über den Brenner nach Österreich. Das löst alles das Problem nicht."

Martin Schulz, Chef Europa-Parlament

200.000 auf dem Absprung in Libyen

Und das Problem ist groß: Bis zu 200.000 Menschen sollen sich derzeit in Libyen befinden, die auf besseres Wetter warten, um dann in Booten die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer Richtung Italien zu wagen. Darunter Syrer, Afghanen und Iraker, aber auch Eritreer, Nigerianer und Somalier, sagt Wolfgang Kaschuba, ehemaliger Professor für europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin.

"Im Moment staut sich das in Libyen, was aus einer Mischung eben von halber Bürgerkriegssituation in Libyen entsteht, und eben aus dem mittleren und südlichen Afrika."

Wolfgang Kaschuba, ehem. Prof. Humboldt-Universität Berlin

Das Geschäft mit der Verzweiflung

Libyen gilt als Hochburg der Menschenschlepper. Der Andrang der Flüchtlinge ist groß – und damit auch der Gewinn für die Schleuser. Sie nutzen aus, dass das Land seit dem Sturz Gaddafis zerrüttet ist und es dort kaum staatliche Strukturen gibt. Bis zu 300 Millionen Euro pro Jahr sollen die Schleuser verdienen, heißt es in einem Bericht der europäischen Anti-Schlepper-Mission. In manchen Städten soll der Menschenhandel mehr als die Hälfte der Gesamteinnahmen ausmachen. Deshalb gehen Experten davon aus, dass keine der beiden rivalisierenden Regierungen den Willen hat, diese Geldquelle auszutrocknen.

Katastrophale Zustände

Viele Flüchtlinge, die in Libyen ankommen, leben dort unter katastrophalen Umständen. Sie sind moderne Sklaven: Müssen arbeiten, ohne dafür Geld zu bekommen, sagt eine Sprecherin der Menschenrechtsorganisation "Amnesty International". In den Flüchtlingslagern gibt es Folter und andere grobe Misshandlung, zum Beispiel Schläge mit Stöcken, Peitschen und Kabeln, so die Menschenrechtlerin.

Wenn jetzt Hunderttausende Migranten in Libyen darauf warten, endlich nach Europa in See zu stechen, bedeutet das drei Dinge: ein deutliches Ansteigen der Flüchtlingszahlen im Frühling. Italien wird wieder Ankunftsland Nummer eins in Europa. Und: Das Mittelmeer könnte wieder zum Massengrab werden.


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