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Rätselhafte Schriftstellerin Ilse Aichinger ist tot

Die Schriftstellerin Ilse Aichinger ist mit 95 Jahren in Wien gestorben. Aichinger wurde 1948 wurde mit dem Roman "Die größere Hoffnung" schlagartig bekannt. Ihre Werke werden für ihre analytische Schärfe und lyrische Kraft gefeiert.

Stand: 11.11.2016 | Archiv

Die Österreicherin Ilse Aichinger stammte aus einer jüdischen Familie. Da ihre Mutter Jüdin war, galt sie nach NS-Definition als "Halbjüdin" und erhielt Studienverbot. Zusammen mit ihrer Mutter überlebte sie die Kriegszeit in Wien. Ihre Großmutter, eine Tante und ein Onkel wurden 1942 deportiert und starben in einem Vernichtungslager bei Minsk. Ihre Zwillingsschwester Helga entkam der Vernichtungsmaschinerie mit dem letzten Kindertransport nach England.

Schicksalhafte Begegnung mit der Gruppe 47

Ilse Aichinger 1965

Die Erfahrung dieser Jahre spiegelt sich - verfremdet und gebrochen - in Aichingers erstem und einzigem Roman "Die größere Hoffnung" von 1948. Der märchenhafte, subjektive Ton, in dem sie hier die Schicksale jüdischer Kinder erzählt, hat viele Kritiker befremdet und überfordert.

Unter Kollegen aber sorgte der Roman für Aufsehen, und bald folgte eine Einladung zur Gruppe 47. Die lose Vereinigung deutschsprachiger Schriftsteller, die sich einmal im Jahr traf, spielte Schicksal im Leben der jungen Autorin. Dort lernte Aichinger auch den Lyriker und Hörspielautor Günter Eich (1907-1972) kennen. Sie heirateten 1953.

1952 erhielt sie den Preis der Gruppe 47 für die "Spiegelgeschichte", worin sie das Leben einer Frau rückwärts erzählt - vom Tod bis zur Geburt. Die Erzählung markiert ebenso wie der Band "Der Gefesselte" (1953), in dem sie veröffentlicht wurde, Aichingers literarischen Durchbruch. Ihre parabelhaften Geschichten wurden prägend für die Entwicklung der Kurzgeschichte in Deutschland.

Nach den ersten Erfolgen ging sie nicht etwa den einmal eingeschlagenen Weg weiter, sondern schrieb Hörspiele, Dialoge und Gedichte, in denen sie die Reduktion sprachlicher Mittel auf die Spitze treibt. Auch ihre Erzählungen wurden zusehends rätselhafter.

Seit zwei Jahrzehnten zurückgezogen

"Wenn mir zwei oder drei Sätze gelingen, dann habe ich das Gefühl, meine Existenz wäre nicht völlig absurd, als bliebe noch ein Funken Sinn übrig."

Ilse Aichinger

Ein großes Publikum konnte sie damit nicht mehr gewinnen, wohl aber mehrere der bedeutendsten Literaturpreise in Deutschland und Österreich. Gesonnt in ihrem Ruhm hat sich die "radikale Verneinungskünstlerin", wie sie Literaturkritikerin Iris Radisch nennt, nie, aber das Schreiben war ihr Lebenselixier.

"Ich habe es immer als Zumutung empfunden, dass man nicht gefragt wird, ob man auf die Welt kommen will. Ich hätte es bestimmt abgelehnt."

Ilse Aichinger

So äußerte sich Aichinger in einem Interview zu ihrem 75. Geburtstag. Seit nahezu zwei Jahrzehnten lebte sie weitgehend zurückgezogen.


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