1

Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer Den Toten ein Gesicht geben

Es war eines der größten Schiffsunglücke im Mittelmeer: Am 18. April 2015 kenterte ein Flüchtlingsboot etwa 130 Kilometer vor der libyschen Küste. 700 Menschen ertranken, nur 28 überlebten. Nun gibt es neue Erkenntnisse der Katastrophe.

Von: Jan-Christoph Kitzler

Stand: 01.07.2016

Symbolbild: Wrackteile eines verunglückten Flüchtlingsboots | Bild: picture-alliance/dpa/Kay Nietfeld

Matteo Renzi hatte schon gleich nach dieser Katastrophe die Richtung vorgegeben: nein, diese sollte nicht eine der unzähligen Katastrophen auf dem Mittelmeer sein, bei der man die Opfer nicht kennt. Nicht schon wieder diese vielen Toten ohne Gesicht und ohne Namen. Schon gleich nach dem wohl bislang schlimmsten Bootsunglück auf dem Mittelmeer am 18. April 2015 sagte Italiens Ministerpräsident:

"Wir werden das Boot vom Meeresboden bergen. Wir werden es hoch holen. Das wird ca. 15, 20 Millionen Euro kosten. Ich hoffe, dass Europa das bezahlt, wenn nicht, wird Italien bezahlen. Denn die ganze Welt muss sehen, was geschehen ist. Denn es ist inakzeptabel zu sagen: Aus den Augen, aus dem Sinn!"

Matteo Renzi

Nur 28 Überlebende

Nur 28 Menschen hatten das Bootsunglück damals überlebt, sie haben von mehr als 700 Migranten berichtet, die mit ihnen von der libyschen Küste aus nach Italien aufgebrochen waren. Ihr völlig überfüllter Fischkutter hatte ein Handelsschiff gerammt, dass zur Rettung gekommen war - wohl weil sich der Kapitän des Kutters in der Masse der Flüchtlinge verstecken wollte und nicht mehr am Steuer war.

Das Boot ist untergegangen und lag seit diesem Tag in fast 400 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund. Danach begann eine Bergungsaktion, die es so noch nicht gegeben hat, mehrere Schiffe waren im Einsatz, Taucher und Roboter, um die 150 Einsatzkräfte haben jeden Tag gearbeitet, um den Toten ein Gesicht zu geben, beschreibt Admiral Pietro Covino, der Einsatzleiter:

"In der ersten Phase, von Juni bis Oktober 2015 haben wir eine Million Quadratmeter abgesucht. 156 Leichen geborgen. Das Boot lag ein paar hundert Meter von der Unglücksstelle entfernt auf dem Meeresboden. Und die Leichen waren in einem großen Gebiet verteilt. Deshalb haben wir all diese Monate gebraucht um das Areal genau zu untersuchen."

Admiral Pietro Covino

 Bergung des Fischkutters

In den letzten Tagen wurde der Fischkutter an die Oberfläche geholt und ist jetzt im Hafen von Augusta in Sizilien. Ab jetzt, in einer Art Kühlhaus, hat unter anderem die Forensikerin Christina Cataneo die schreckliche Aufgabe, die Überreste von schätzungsweise 300 Todesopfern zu bergen, die noch  im Bauch des Schiffes sind:

"Man kann sich ja vorstellen, dass man die Leichen nach einem Jahr im Wasser nicht mehr wiedererkennt. Das heißt aber nicht, dass sie nicht identifizierbar sind. Das ist nicht wahr: man kann auch ein Skelett identifizieren, über die Zähne, die DNA. Wichtig ist, dass wir brauchbares Material zum Abgleich haben. Klar, das sind zersetzte Leichen, aber immer noch identifizierbar."

Christina Cataneo

DNA-Proben aus Mali und Senegal

Hunderte Angehörige, zum Beispiel aus Mali und dem Senegal, haben schon DNA-Proben abgegeben, damit Cataneo die Toten identifizieren kann. Ein langer Prozess, ein teures Verfahren. Aber so sollen die vielleicht 700 Toten des Unglücks nicht in Vergessenheit geraten, wie so viele andere. Dafür will auch Vittorio Piscitelli sorgen, der als Präfekt für vermisste Personen zuständig ist und in diesen Zeiten mit den vielen Opfern auf dem Mittelmeer viel zu tun hat. Aber was passiert mit den Überresten der Opfer des Unglücks?

"Alle Leichen werden erst einmal mit einer Nummer beerdigt. Später hoffen wir diese Zahl durch einen Namen ersetzen zu können, sobald sie identifiziert sind. Dann werden die Verwandten benachrichtigt, und die können entscheiden ob sie den Körper lassen wollen wo er begraben ist  oder ihn durch eine internationale Rechtshilfe exhumieren lassen und ihn ins Heimatland zurückholen."

Vittorio Piscitelli

Hilflose Geste

Und doch ist diese Bergungsaktion nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn auf dem Mittelmeer wird weiter gestorben.  Zwar konnte die Italienische Küstenwache heute 223 Menschen von einem sinkenden Schlauchboot retten. Für zehn Frauen aber kam die Hilfe zu spät. Rund 2.900 Menschen haben allein in diesem Jahr auf dem Mittelmeer ihr Leben gelassen. Die meisten ihnen haben keinen Namen und kein Gesicht.


1